Sherlock Holmes - gesammelte Werke
Backofen. Er saß ganz zusammengekrümmt auf dem Stuhl, und man sah deutlich, wie verkrüppelt seine Gestalt war, doch trug sein hageres, sonnenverbranntes Gesicht noch unverkennbare Spuren früherer Schönheit. Aus seinen gelbunterlaufenen, gallsüchtigen Augen blickte er uns misstrauisch an und deutete, ohne zu sprechen oder sich zu erheben, auf zwei Stühle, die im Zimmer standen.
»Sie sind Mr Henry Wood aus Indien, wenn ich nicht irre«, sagte Holmes in freundlichem Ton. »Ich möchte über den Tod des Obersten Barclay ein Wort mit Ihnen reden.«
»Was sollte ich wohl davon wissen?«
»Das muss ich zu erfahren suchen. Falls nämlich die Sache nicht aufgeklärt wird, würde Mrs Barclay, die Sie von früher her gut kennen, aller Wahrscheinlichkeit nach des Mordes angeklagt werden.«
Der Mann schrak heftig zusammen.
»Ich weiß nicht, wer Sie sind«, rief er, »noch woher Sie erfahren haben, was Sie wissen; aber ist das wahr, was Sie sagen? Wollen Sie es beschwören?«
»Jawohl. Man wartet nur darauf, dass sie wieder zum Bewusstsein kommt, um sie festzunehmen.«
»Großer Gott! – Gehören Sie selbst zur Polizei?«
»Nein.«
»Was geht Sie dann die Sache an?«
»Es muss jedermann darum zu tun sein, dass keine Ungerechtigkeit geschieht.«
»Auf mein Wort – sie ist unschuldig.«
»Dann sind Sie der Mörder?«
»Nein, ich nicht.«
»Wer hat denn den Oberst Barclay umgebracht?«
»Das Gericht des Himmels hat ihn ereilt. Aber das sage ich Ihnen: Hätte ich ihm den Schädel eingeschlagen, wie es meine Absicht war, wäre ihm nur geschehen, was er reichlich um mich verdient hat. Wenn ihn die Angst seines bösen Gewissens nicht zu Boden gestreckt hätte, wäre sein Blut höchstwahrscheinlich von meiner Hand geflossen. Sie wollen seine Geschichte von mir hören? – Nun gut – ich habe keinen Grund, sie zu verschweigen; was ich Ihnen erzählen werde, gereicht mir nicht zur Schande.
Jetzt sitze ich hier vor Ihnen mit meinem krummen Buckel und habe keine gerade Rippe mehr am ganzen Leib, aber es hat eine Zeit gegeben, da war der Korporal Henry Wood der strammste Soldat im 117. Regiment. Wir standen damals in Indien in Kantonnement, der Ort hieß Bhurtee. Der jüngst verstorbene Barclay war Unteroffizier in derselben Kompanie wie ich; die angebetete Schönheit des Regiments aber, das herrlichste Mädchen, welches je auf Erden gelebt hat, war Nancy Devoy, die Tochter des Feldwebels. Zwei Männer bewarben sich um ihre Hand, und sie erwiderte die Liebe des einen. Sie sehen mich armen Krüppel hier am Feuer kauern und werden lächeln, wenn ich Ihnen sage, dass sie mich liebte, weil meine stattliche Gestalt ihr so wohl gefiel. Nancys Herz gehörte mir, aber ihr Vater hatte sich in den Kopf gesetzt, dass sie Barclay heiraten solle. Ich war nur ein leichtes Blut, ein rechter Sausewind, und er hatte höhere Bildung genossen und stand bei den Vorgesetzten gut angeschrieben. Das Mädchen aber hielt treulich zu mir, und ich hoffte schon, sie würde mein eigen werden, als der Aufstand losbrach und alle Schrecken der Hölle ringsumher im Land wüteten.
Unser Regiment war in Bhurtee eingeschlossen, samt einer Abteilung Artillerie, einer Kompanie Sikhs und Scharen von Bürgersleuten, Frauen und Kindern. Zehntausend Rebellen standen rings um die Stadt und bewachten uns wie eine Meute Jagdhunde das eingefangene Wild. In der zweiten Woche der Belagerung stellte sich Wassermangel ein, und die Frage entstand, ob es möglich sein würde, uns mit General Neill in Verbindung zu setzen, der mit seinem Heer das Land heraufgezogen kam. Uns samt all den Weibern und Kindern bis zu ihm durchzuschlagen war ein Ding der Unmöglichkeit; wir konnten nur auf Rettung hoffen, wenn er uns Entsatz brachte. In dieser Not trat ich vor und sagte, ich wolle versuchen, mich bis zu General Neill durchzuschleichen, um ihm Kunde zu bringen von unserer gefährlichen Lage. Man ging auf mein Anerbieten ein, und da Barclay die Umgegend besser kannte als irgendjemand, besprach ich den Plan mit ihm, und er zeichnete mir genau die Route auf, die ich einschlagen musste, um durch die Rebellenlinien zu kommen. Noch dieselbe Nacht begab ich mich um zehn Uhr auf die Reise. Es galt zehntausend Menschenleben zu retten, aber ich dachte damals nur an sie, als ich in der Finsternis über die Festungsmauer stieg.
Mein Weg ging durch ein ausgetrocknetes Flussbett, in welchem ich mich vor den feindlichen Schildwachen zu verbergen hoffte; aber als ich um eine Ecke bog,
Weitere Kostenlose Bücher