Sherlock Holmes - gesammelte Werke
und erklärt kurz und bündig, einen bestimmten Ball besuchen zu wollen. Was tut da der geschickte Stiefvater? Es fällt ihm ein Auskunftsmittel ein, das seinem Kopf mehr zur Ehre gereicht als seinem Herzen: Im Einverständnis mit seiner Frau und mit deren Hilfe verkleidet er sich, verbirgt seine zu lebhaften Augen hinter dunklen Gläsern, legt einen falschen Schnurr- und Backenbart an, dämpft seine klare Stimme und flüstert nur leise; er baut getrost auf die Kurzsichtigkeit des Mädchens, erscheint als Mr Hosmer Angel und verscheucht die Kurmacher, indem er selbst die Kur schneidet.«
»Erst war es nur ein Spaß«, seufzte unser Besucher. »Wir ahnten nicht, dass sie gleich Feuer fangen würde.«
»Das mag wohl sein. Nichtsdestoweniger fiel das junge Mädchen gründlich hinein, und da sie fest glaubte, ihr Stiefvater sei in Frankreich, dachte sie nicht daran, Argwohn zu schöpfen. Die Artigkeiten des jungen Mannes schmeichelten ihr, und die Lobeserhebungen der Mutter machten sie noch eindrucksvoller. Dann machte Mr Angel seinen Besuch, denn die Kurmacherei musste bis zu einem gewissen Punkt getrieben werden, sollte sie einen wirklichen Erfolg haben. Es folgten Zusammenkünfte und eine Verlobung, die schließlich die Neigung der jungen Dame von jeder anderen Persönlichkeit ablenken sollte. Auf die Dauer ließ sich die Täuschung nicht aufrechterhalten. Die vorgespiegelten Reisen nach Frankreich wurden unbequem. Der einzige Ausweg war, eine tragische Lösung herbeizuführen, die auf das junge Mädchen einen so tiefen, bleibenden Eindruck machen musste, dass ihr auf längere Zeit hinaus alle Heiratsgedanken vergingen. Darum jener Schwur der Treue auf die Bibel, darum die Andeutungen auf ein mögliches Hindernis noch am Hochzeitsmorgen. James Windibank wünschte, Miss Sutherland so fest an Hosmer Angel zu binden und sie über dessen Los so in Unsicherheit zu lassen, dass sie unbedingt in den nächsten zehn Jahren keinen anderen Mann erhören sollte. Bis an die Kirchentür hat er sie gebracht, und da er nicht weiter gehen durfte, verduftete er im richtigen Augenblick; er bediente sich des alten Kniffs, zu einer Wagentür hinein-, zur anderen herauszuspringen. In dieser Weise, glaube ich, dass die Ereignisse etwa aufeinandergefolgt sind.«
Windibank hatte, während Holmes sprach, etwas von seiner Sicherheit wiedererlangt; jetzt stand er auf, es lag kalter Hohn auf seinen blassen Zügen.
»Das alles mag sein, mag aber auch nicht sein, Mr Holmes«, sagte er. »Wenn Sie aber gar so klug sind, sollten Sie auch wissen, dass Sie jetzt wider das Gesetz handeln – ich aber nicht. Ich habe vom ersten Anfang an nichts Gesetzwidriges getan; solange Sie aber diese Tür verschlossen halten, machen Sie sich der Vergewaltigung und der Freiheitsberaubung gegen mich schuldig.«
»Das Gesetz kann Sie nicht fassen, Sie haben recht«, erwiderte Holmes, schloss die Tür auf und öffnete sie weit, »und doch hat nie ein Mann die Strafe mehr verdient als Sie. Besitzt die junge Dame einen Bruder oder einen Freund, sollte der die Reitgerte auf Ihren Schultern tanzen lassen. Wahrhaftig!«, fügte er, rot vor Zorn, hinzu, als er das höhnische Lachen des anderen wahrnahm. »Zu meinen Pflichten gegen meine Klienten gehört das nicht – hier aber hängt eine Hetzpeitsche, und ich muss mir selbst …« Er wollte die Peitsche holen, doch ehe er sie gefasst hatte, stürmten Männerschritte die Treppe hinab, laut schlug die Haustür zu, und vom Fenster aus sahen wir Mr James Windibank, so schnell ihn die Füße nur tragen konnten, die Straße entlangeilen.
»Ein kaltblütiger Schuft!«, meinte Holmes, als er sich lachend wieder in seinen Lehnstuhl warf. »Verbrechen aufVerbrechen wird der Kerl verüben, bis er etwas tut, das ihn ins Zuchthaus bringt. In mancher Hinsicht war der Fall nicht ohne Interesse.«
»Ich begreife die ganze Entwicklung Ihrer Folgerungen immer noch nicht«, bemerkte ich.
»Vom ersten Augenblick an stand außer Frage, dass dieser Mr Hosmer Angel einen wichtigen Grund für sein sonderbares Benehmen haben musste, und es lag ebenso klar auf der Hand, dass der einzige Mensch, der einen Vorteil aus der Sache zog, der Stiefvater war. Dann gab der Umstand, dass die beiden Männer nie zusammentrafen, sondern stets einer in Abwesenheit des anderen erschien, Anlass zu Vermutungen. Mit den dunklen Augengläsern, der sonderbaren Stimme und dem starken Bart ging es ebenso. Mein Verdacht wurde dadurch vollends bestätigt, dass er mit
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