Sherlock Holmes - gesammelte Werke
gehabt?«
»Ja, einige – ehe ich Cyril kennenlernte.«
»Und seitdem weiter keinen?«
»Wenn Sie den schrecklichen Woodley nicht so nennen wollen, nein.«
»Sonst wissen Sie von keinem?«
Unsere hübsche Klientin wurde etwas verlegen.
»Gestehen Sie’s nur, Miss Smith«, sagte Holmes, »wer hat Sie außerdem noch verehrt?«
»Ach, es ist vielleicht bloß Einbildung von mir; aber manchmal schien mir’s, als ob mein Prinzipal, Mr Carruther, sich stärker für mich interessiere. Wir sind ziemlich viel zusammen, ich begleite ihn abends immer auf dem Klavier. Er hat zwar nie etwas geäußert, er ist ein gebildeter Mann – aber ein Mädchen fühlt’s schon heraus.«
»Aha!«, rief Holmes und machte ein ernstes Gesicht. »Was führt er für ein Leben?«
»Er ist reich.«
»Und hat keine Wagen und Pferde?«
»Wenigstens gibt er sich den Anstrich größerer Wohlhabenheit. Er geht wöchentlich zwei bis drei Mal zur Stadt. Er ist an südafrikanischen Minenwerten stark interessiert.«
»Setzen Sie mich sofort in Kenntnis, wenn sich die Angelegenheit weiter entwickelt, Miss Smith. Ich habe gegenwärtig sehr viel zu tun, werde mir jedoch die Zeit nehmen, in Ihrer Sache Nachforschungen anzustellen. Tun Sie aber inzwischen keinen Schritt, ohne mich vorher zu benachrichtigen. Adieu, hoffentlich haben Sie uns nur Gutes zu berichten.«
»Es ist ganz natürlich, dass ein solches Mädchen umworben wird«, sagte Holmes und tat nachdenklich einen Zug aus der Pfeife, »dass es aber auf dem Rad und auf einsamen Landstraßen geschieht, ist doch auffallend. Zweifellos ist’s ein stiller Liebhaber. Der ganze Fall scheint mir an sich weniger interessant, Watson, er bietet aber eigentümliche Begleitumstände, die allerhand Anregung zum Nachdenken geben.«
»Das Merkwürdigste ist, dass sich der Mann nur an der einzigen Stelle gezeigt hat, nicht wahr?«
»Gewiss. Wir müssen damit beginnen, die Pächter von Charlington Hall ausfindig zu machen. Dann müssen wir auskundschaften, woher die Freundschaft zwischen Carruther und Woodley stammt, sie scheinen doch grundverschiedene Charaktere zu sein. Wie kamen sie beide dazu, sich so sehr um Ralph Smiths Verwandte zu kümmern? Noch eins. Was ist das für ein sonderbarer Hausherr, der für eine Erzieherin das doppelte des üblichen Gehaltes zahlt und sich kein Pferd hält, obwohl er sechs Meilen vom Bahnhof wohnt? Das ist sonderbar, Watson – höchst sonderbar!«
»Sie wollen also hinuntergehen?«
»Nein, mein Lieber, das können Sie tun. Vielleicht ist es doch nur eine unwichtige Sache, und ich kann meine bedeutungsvolle Untersuchung deswegen jetzt nicht unterbrechen. Montag in der Frühe können Sie in Farnham sein. Sie müssen sich dann in der Nähe der Charlingtoner Heide verbergen, aufpassen, was sich ereignet, und nach eigenem Ermessen vorgehen. Wenn Sie dann noch über die Inhaber von Charlington Erkundigungen eingezogen haben, fahren Sie zurück und erstatten mir Bericht. Und nun eher kein Wort mehr über die Sache, bis wir einen soliden Untergrund gefunden haben, auf dem wir weiter bauen können.«
Wir wussten, dass die Dame Montagmorgen mit dem Zug 9 Uhr 50 von der Waterloo Bridge abfahren würde; ich nahm also den früheren Zug um 9 Uhr 13 Minuten. Von Farnham gelangte ich ohne Schwierigkeiten nach der Charlingtoner Heide. Der Schauplatz des Abenteuers der jungen Dame war gar nicht zu verfehlen. Auf der einen Seite des Weges breitete sich weithin die Heide aus, auf der anderen zog sich ein Wäldchen mit stattlichen Bäumen hin, welches von alten Taxussträuchern umgeben war. In diesen großen Park führte ein Haupteingang aus Stein. Die Steine waren von Moos überzogen, und die Pfeiler zeigten noch verwitterten heraldischen Schmuck. Außer dieser Einfahrt bemerkte ich noch mehrere Lücken in dem Heckenzaun und schmale Pfade, auf denen man den Wald erreichen konnte. Die Gebäude selbst waren von der Straße aus nicht zu sehen, aber die ganze Umgebung zeugte von dem Verfall dieses Besitztums.
Das weite Heideland war mit goldenen Ginsterblüten übersät, die in dem herrlichen Frühlingssonnenschein erglänzten. Hinter einem dieser Büsche stellte ich mich so auf, dass ich den Eingang zum Schloss und ein gutes Stück der Landstraße nach beiden Richtungen übersehen konnte. Sie war anfangs vollkommen menschenleer, aber bald gewahrte ich einen Radfahrer. Er fuhr zu der Seite, von der ich gekommen war. Er hatte einen dunklen Anzug an, und ich konnte auch den schwarzen
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