Sherlock Holmes - gesammelte Werke
Nachbarschaft aufhalten, denn er hat nicht hier geschlafen, und trotzdem sah ich ihn heute Morgen bereits im Garten umherschleichen. Er ist mir widerwärtiger als ein wildes Tier. Ich verabscheue und fürchte ihn mehr, als ich es in Worten ausdrücken kann. Wie kann Mr Carruther einen solchen Menschen nur eine Minute dulden? Nun, alle meine Bekümmernis wird am Sonnabend aufhören.«
»Ich will’s hoffen, Watson«, sagte Holmes in ernstem Ton. »Das arme Weib wird von Gaunern umlauert, und wir haben die Pflicht, dafür zu sorgen, dass ihr auf ihrer letzten Reise nichts passiert. Wir müssen uns, glaube ich, die Zeit nehmen und Sonnabendmorgen zusammen hinunterfahren, damit diese merkwürdige Angelegenheit am Ende nicht noch schiefgeht.«
Ich muss zugeben, dass ich der Sache bis jetzt kein großes Gewicht beigelegt hatte, sie war mir mehr komisch und töricht als gefährlich vorgekommen. Dass ein Mann auf ein schönes Mädchen wartet und es verfolgt, ist nichts Unerhörtes, und wenn er so wenig Mut hatte, dass er es nicht einmal anzureden wagte, sondern bei seiner Annäherung floh, so war er kein sehr zu fürchtender Angreifer. Der scheußliche Woodley war freilich ein anderer Kerl, immerhin jedoch hatte auch er sie, mit Ausnahme des einen Mals, nicht belästigt und bei seinem zweiten Besuch im Hause Carruthers ihr gar keine Beachtung geschenkt. Der Radfahrer gehörte zweifelsohne zu jener Gesellschaft, von der der Wirt gesprochen hatte, aber über seine Persönlichkeit und seine Beziehungen wussten wir noch so wenig wie vorher. Erst der Ernst in Holmes’ Benehmen und die Tatsache, dass er einen Revolver einsteckte, als wir weggingen, rief in mir das Gefühl wach, dass hinter diesen eigentümlichen Vorgängen doch eine Gefahr lauern könnte.
Einer regnerischen Nacht folgte ein heiterer Morgen. Die Heidelandschaft mit dem blühenden Ginster tat unseren Augen, die der grauen schmutzigen Straßen und Häuser Londons müde waren, außerordentlich wohl. Holmes und ich marschierten die breite, sandige Landstraße entlang und schlürften die frische Morgenluft und freuten uns an dem Gesang der Vögel und dem Duft des Frühlings. Von einer Anhöhe aus konnten wir das verfallene Schloss erblicken, das über die alten Eichen hervorragte, die aber trotz ihres hohen Alters noch jünger waren als das Gebäude, welches sie umgaben. Holmes deutete den langen Weg hinunter, der sich wie ein rötlichgelbes Band zwischen der braunen Heide und dem jungen Grün des Waldes dahinschlängelte. Ganz in der Ferne bemerkten wir einen dunklen Fleck, es war ein Fuhrwerk, das sich in der Richtung auf uns zu bewegte. Holmes war sehr unwillig.
»Ich wollte eine halbe Stunde vor ihr ankommen«, rief er aus. »Wenn das ihr Wagen ist, muss sie mit einem früheren Zug fahren wollen. Ich fürchte, Watson, sie wird eher an Charlington vorbeikommen, ehe wir dort sein können.«
Sobald wir den Hügel überschritten hatten, konnten wir das Gefährt nicht mehr sehen. Wir beschleunigten unsere Schritte dermaßen, dass meine sitzende Lebensweise bald dagegen protestierte und mich nötigte zurückzubleiben. Holmes lief jedoch immer voran, er hatte unerschöpfliche Kraftvorräte, von denen er zehren konnte. Seine elastischen Beine machten nicht eher Halt, bis er plötzlich, ungefähr hundert Meter vor mir, stehen blieb und verzweifelt die Hände emporrang. Im selben Augenblick kam ein leerer Wagen um die Krümmung des Weges und rasselte uns entgegen; das Pferd lief einen leichten Galopp, und die Zügel schleiften auf dem Boden.
»Zu spät, Watson; zu spät!«, rief Holmes, als ich keuchend an ihn herankam. »’n Esel war ich, dass ich nicht mit dem früheren Zug rechnete! ’s ist Entführung, Watson – Entführung! Mord! Gott weiß was noch! Versperren Sie den Weg! Halten Sie das Pferd auf! So ist’s recht. Nun springen Sie rein, wir wollen sehen, ob ich die Folgen meiner eigenen Dummheit noch gutmachen kann.«
Als wir im Wagen saßen, drehte Holmes um, gab dem Pferd einen Schlag mit der Peitsche, und wir sausten zurück. Als wir um die Kurve herum waren, lag die ganze Strecke offen vor uns. Ich ergriff Holmes beim Arm.
»Dort ist der Mann!«, rief ich.
Ein einsamer Radfahrer kam auf uns zu. Der Kopf hing vorn herunter, und der Rücken war so stark gekrümmt, als ob er seine ganze Kraft zum Treten brauchte. Er raste wie ein Rennfahrer. Plötzlich erhob er sein bärtiges Gesicht, erblickte uns in ziemlicher Nähe, sprang vom Rad und blieb stehen.
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