Sherlock Holmes - gesammelte Werke
heißt’s so. Dann haben wir also nur noch die Bedeutung des J. H. N. herauszubringen. Ich habe schon die alten Maklerverzeichnisse nachgesehen, kann aber aus dem Jahre 1883 keinen Namen finden, dessen Initialen diesen entsprechen. Aber ich fühle doch, dass das die wichtigste Spur ist, die ich habe. Diese Buchstaben könnten auch den Namen des Mörders bedeuten, halten Sie das nicht auch für möglich, Mr Holmes? Überdies würde die Einsichtnahme in ein solches Dokument, das ein Verzeichnis so vieler Wertpapiere enthält, auch, vorläufig wenigstens, die Mordtat überhaupt erklärlich machen.«
Holmes konnte man am Gesicht ablesen, dass er durch diese neue Wendung der Dinge vollständig aus dem Geleise gekommen war.
»Ich muss Ihre beiden Vermutungen zugeben«, sagte er nach einer Weile. »Ich muss eingestehen, dass dieses Notizbuch, das im Protokoll nicht erwähnt ist, meine Annahmen etwas beeinträchtigt. Ich hatte mir eine Theorie gebildet, in die das Buch nicht hineinpasst. Haben Sie schon Schritte getan, um eines der hier notierten Papiere ausfindig zu machen?«
»Es wird jetzt gerade an den Banken Nachfrage darüber gehalten; ich fürchte freilich, dass das vollständige Register der Aktionäre dieser südamerikanischen Werte sich in Amerika befindet und einige Wochen hingehen, ehe wir Nachricht bekommen.«
Holmes hatte die Einbanddecke des Notizbuches mit der Lupe betrachtet.
»Hier ist irgendein Flecken«, sagte er.
»Gewiss, ein Blutflecken. Ich erzählte Ihnen doch, dass ich das Buch vom Boden aufgehoben habe.«
»War der Blutflecken oben oder unten?«
»Auf der Seite, die den Boden berührte.«
»Daraus geht natürlich hervor, dass das Buch heruntergefallen ist, nachdem das Verbrechen geschehen war.«
»Allerdings, Mr Holmes. Ich habe diesen Umstand auch berücksichtigt und vermutet, dass es der Mörder bei der eiligen Flucht verloren hat. Es lag nahe an der Tür.«
»Von den Papieren selbst ist wohl keins im Besitz des Ermordeten gefunden worden?«
»Nein.«
»Glauben Sie aus irgendeinem Grund, dass Raub vorliegen könnte?«
»Nein, Mr Holmes. Es schien nichts berührt zu sein.«
»Weiß der Himmel! Es ist ein interessanter Fall. Da war doch auch noch ein Messer, nicht wahr?«
»Ja, ein Dolchmesser, das noch in der Scheide steckte. Es lag zu seinen Füßen, und Mrs Carey hat es als ihres Mannes Eigentum erkannt.«
Holmes überlegte einen Augenblick.
»Gut«, sagte er schließlich, »ich muss doch mitkommen und mir alles selbst einmal ansehen.«
Hopkins stieß einen Freudenschrei aus.
»Ich danke Ihnen, Mr Holmes. Sie nehmen mir wirklich einen Stein vom Herzen.«
»Vor acht Tagen würde ich’s leichter gehabt haben«, antwortete Holmes. »Aber auch jetzt dürfte mein Besuch noch nicht ganz fruchtlos sein. Watson, falls Sie Zeit haben, würde es mir recht sein, wenn Sie mich begleiteten. Wenn Sie einen Wagen bestellen wollen, Mr Hopkins – in einer Viertelstunde werden wir fertig sein zur Abfahrt nach Forest Row.«
Einige Meilen fuhren wir durch die Überreste einst gewaltiger Wälder, einen Teil des großen Sachsenwalds, der diese Eroberer so lange aufgehalten und den Briten sechzig Jahre als Bollwerk gedient hatte. Weite Strecken desselben sind abgeschlagen, und hier sind die ersten Eisenwerke entstanden, und mit dem Holz der Bäume ist das erste Erz geschmolzen worden. Diese Lager wurden infolge der Ausbeutung der reicheren Felder des Nordens stillgelegt und jetzt zeigen nur noch die verwüsteten Waldungen und die großen Löcher in der Erde die Arbeit vergangener Zeiten. Hier stand auf einer Lichtung am Fuß eines grünen Hügels ein langes, niedriges, steinernes Haus in der Nähe eines Feldwegs. Näher am Weg und auf drei Seiten von Bäumen und Buschwerk umgeben war ein kleines Häuschen, dessen Tür und eines der Fenster wir von dem Weg aus sehen konnten. Es war der Schauplatz des Mordes!
Hopkins führte uns zunächst ins Wohnhaus, wo er uns einer Frau mit grauem Haar, der Witwe Carey, vorstellte. Ihr abgehärmtes Gesicht mit tiefen Furchen und die rotgeränderten Augen, in deren Tiefen noch der Schrecken zu erkennen war, erzählten von den Jahren der Misshandlung und des Kummers, die sie erduldet hatte. Neben ihr stand die Tochter, ein blasses, blondes Mädchen, das uns trotzig anblickte, während sie sagte, dass sie über den Tod ihres Vaters froh sei und die Hand segne, die ihn durchbohrt habe. Es waren schreckliche Familienverhältnisse, in die wir einen Einblick
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