Sherlock Holmes - gesammelte Werke
belehren können.«
»Warum schreiben Sie sie denn nicht selbst?«, versetzte ich, etwas verletzt.
»Das beabsichtige ich jetzt auch, mein lieber Watson, das werde ich ganz gewiss noch tun. Augenblicklich bin ich jedoch, wie Sie wissen, stark beschäftigt, aber ich habe mir vorgenommen, meine späteren Jahre der Ausarbeitung eines Werkes zu widmen, welches die ganze Detektivkunst in einem einzigen Band zusammenfassend enthalten soll. Gegenwärtig scheint es sich um einen Mord zu handeln.«
»Sie meinen also, dass dieser Mr Edward tot ist?«
»Das ist allerdings meine Ansicht. Hopkins’ Brief verrät eine starke Aufregung, und er ist nicht gerade ein Gemütsmensch. Ja, ich nehme an, dass ein Gewaltakt vorliegt und dass man die Leiche liegen gelassen hat, damit wir sie an Ort und Stelle in Augenschein nehmen können. Bei einem einfachen Selbstmord würde er mich nicht gerufen haben. Was die Befreiung der Dame anbelangt, will es mir scheinen, dass sie während der Ermordung in ihr Zimmer eingeschlossen gewesen ist. Wir haben’s mit feinen Leuten zu tun, Watson; beste Briefbogen, Monogramm V. L., Wappen, künstlerisch ausgestattete Kuverts. Ich vermute, dass Freund Hopkins seinen Ruf erhöhen wird, und dass uns ein interessanter Vormittag bevorsteht. Das Verbrechen ist heute Nacht vor zwölf verübt worden.«
»Woher wissen Sie das?«
»Durch einen Blick ins Kursbuch und durch Berechnung der Zeit. Zuerst musste die Ortspolizei in Kenntnis gesetzt werden, diese musste sich mit der Londoner Polizei verbinden, Hopkins musste hinauffahren und seinerseits wieder nach mir schicken. Das alles zusammen kostet wohl eine Nacht Zeit. Nun, hier sind wir in Chislehurst, und bald werden unsere Zweifel behoben sein.«
Eine Fahrt von ein paar Meilen auf schmalen Feldwegen brachte uns an einen Park. Ein alter Pförtner, von dessen magerem Gesicht man ablesen konnte, dass ein großes Unglück passiert war, öffnete uns die breiten Tore. Wir befanden uns in einem herrlichen Park und schritten eine mit alten Ulmen bestandene Allee entlang, deren Abschluss ein weites, niedriges Gebäude in palladinischem Stil bildete. Der mittlere Teil war offenbar sehr alt und ganz mit Efeu überzogen, aber die großen Fenster wiesen auf moderne Veränderungen hin, und ein Flügel schien überhaupt ganz neu zu sein. Am Eingang kam uns Inspektor Hopkins entgegen.
»Ich bin sehr froh, dass Sie gekommen sind, Mr Holmes, und Sie auch, Dr. Watson! Aber trotzdem würde ich Sie, wenn ich’s jetzt noch mal zu tun hätte, nicht belästigen, denn die Dame hat, sobald sie wieder zu sich gekommen war, einen so klaren Bericht des Hergangs gegeben, dass uns nicht viel zu tun übrig bleibt. Sie kennen doch die Lewishamer Einbrecherbande?«
»Was, die drei Randalls?«
»Jawohl; der Vater mit seinen zwei Söhnen. Die haben’s verübt. Daran ist gar nicht zu zweifeln. Vor vierzehn Tagen haben sie in Sydenham einen großen Einbruchsdiebstahl ausgeführt und sind gesehen und beschrieben worden. Es ist zwar etwas frech, so kurz darauf und so nahe dabei einen zweiten zu wagen, aber sie sind’s gewesen, das steht fest. Diesesmal geht’s ihnen an den Kragen.«
»Dann ist der Baron Edward wohl tot?«
»Ja; man hat ihm mit seinem eigenen Schürhaken den Schädel eingeschlagen.«
»Wie mir der Kutscher sagte, handelt es sich um den Baron Alfred Brackenstall.«
»Ganz recht – einen der reichsten Männer in Kent. Die Baronin Brackenstall ist in ihrem Schlafzimmer. Die arme Frau hat Schreckliches durchgemacht. Sie schien halb tot, als ich sie zum ersten Mal sah. Es ist am besten, wenn Sie gleich zu ihr gehen und sich erzählen lassen, wie sich’s zugetragen hat. Dann wollen wir gemeinsam das Speisezimmer besichtigen.«
Baronin Brackenstall war keine alltägliche Erscheinung. Ich habe selten eine so anmutige Gestalt, eine so echt weibliche Persönlichkeit und ein so schönes Gesicht gesehen. Sie war eine Blondine mit goldenem Haar und blauen Augen und würde zweifelsohne auch die sonstigen Eigentümlichkeiten dieses Typs gehabt haben, wenn sie nicht das Erlebnis der verflossenen Nacht verstört und bleich gemacht hätte. Sie litt sowohl körperlich wie seelisch. Über dem einen Auge hatte sie eine hässliche schwarzblaue Geschwulst, die ihre Dienerin, ein großes, ernstes Weib, unablässig mit Wasser und Essig badete. Die Baronin lag erschöpft auf einer Chaiselongue, aber ihr munterer Blick, mit dem sie uns sofort beim Eintreten bemerkte, und der lebhafte
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