Sherlock Holmes - gesammelte Werke
Ausdruck ihres hübschen Gesichts zeigte uns, dass weder ihr Bewusstsein getrübt noch ihr Lebensmut durch die vorhergegangenen Schrecken erschüttert war. Sie war in ein blau und weißes, loses Morgenkleid gehüllt, aber daneben auf einem Sofa lag ein schwarzes, goldbesetztes Gesellschaftskleid ausgebreitet.
»Ich habe Ihnen ja bereits alles erzählt, Mr Hopkins«, sagte sie müde, »könnten Sie’s nicht für mich wiederholen? Doch, wenn Sie’s für nötig halten, will ich’s den Herren noch mal erzählen. Sind Sie schon im Speisesalon gewesen?«
»Ich dachte, es sei besser, wenn die Herren zuerst aus Ihrem Mund erführen, wie sich’s zugetragen hat.«
»Es würde mir sehr angenehm sein, wenn Sie die Sache in Ordnung bringen könnten. Der Gedanke, dass er noch immer dort liegt, ist mir schrecklich.« Sie erschauderte und verbarg einen Augenblick das Gesicht mit den Händen. Bei dieser Bewegung fielen die weiten Ärmel zurück, und Holmes bemerkte zwei rote Stellen an dem einen der weißen, wohlgerundeten Arme.
»Sie haben noch andere Verletzungen, gnädige Frau!«, rief er aus. »Woher kommt das?«
Sie deckte sie rasch zu.
»Es ist nichts. Es hängt in keiner Weise mit der furchtbaren Begebenheit der vergangenen Nacht zusammen. Wenn Sie und Ihr Freund Platz nehmen wollen, will ich Ihnen alles erklären, soweit es mir möglich ist.
Ich bin die Frau des Barons Edward Brackenstall. Ich bin seit ungefähr einem Jahr verheiratet. Ich glaube, es ist zwecklos, Ihnen zu verheimlichen, dass unsere Ehe nicht sehr glücklich gewesen ist. Ich befürchte, selbst wenn ich’s leugnen wollte, würden Sie’s von allen unseren Nachbarn hören. Vielleicht mag die Schuld zum Teil an mir liegen. Ich bin in der freieren, weniger förmlichen Atmosphäre Südaustraliens erzogen, und dieses englische Leben mit seiner Etikette und Ziererei behagt mir nicht. Aber das Schlimmste war, dass, wie alle Welt weiß, mein Mann ein wirklicher Trinker war. Es ist nicht angenehm, mit einem solchen Menschen auch nur eine Stunde zusammen zu sein. Nun können Sie sich vorstellen, was es für ein empfindsames und stolzes Weib heißen will, an einen solchen Mann Tag und Nacht gekettet zu sein. Es ist unerhört, es ist eine Schmach, von Gesetzes wegen eine solche Ehe für bindend zu erklären! Ich kann Ihnen nur sagen, dass solche ungeheuerlichen Gesetze einen Fluch über Ihr Land bringen – der Himmel will nicht, dass ein derartiges Verhältnis von Dauer sein soll!« Sie richtete sich einen Augenblick auf, ihre Wangen röteten sich und ihre Augen funkelten unter der furchtbaren Verletzung ihrer Stirn hervor. Dann drückte die starke Hand ihrer Zofe ihren Kopf wieder sanft auf das Kissen nieder, und der wilde Zorn ging in leidenschaftliches Schluchzen über. Endlich fuhr sie fort:
»Ich will Ihnen nun von der verflossenen Nacht erzählen. Es ist Ihnen vielleicht schon bekannt, dass in diesem Haus die gesamte Dienerschaft in dem neuen Flügel schläft. Dieses Mittelgebäude enthält vorne die Wohnräume und hinten die Küche und darüber unser Schlafzimmer. Über meinem Zimmer befindet sich die Schlafstube meiner Zofe Theresa. Außer ihr hält sich hier niemand auf, und die in dem anderen Flügel konnten den Lärm unmöglich hören. Das müssen die Räuber genau gewusst haben, denn sonst hätten sie nicht in der Weise vorgehen können, wie sie’s getan haben.
Baron Edward zog sich gegen halb elf zurück. Das Personal war schon zu Bett gegangen. Nur meine Dienerin Theresa war noch auf. Sie hatte in ihrem Zimmer gewartet, bis ich ihre Dienste in Anspruch nehmen würde. Ich saß bis nach elf Uhr in diesem Zimmer, in die Lektüre eines Buches vertieft. Dann machte ich die Runde, um zu sehen, ob alles in Ordnung wäre. Ich pflegte das immer selbst zu tun, ehe ich hinaufging, denn, wie ich erwähnt habe, war Baron Alfred nicht immer zuverlässig. Ich ging in die Küche, ins Anrichtezimmer, in die Speisekammer, ins Billard- und Empfangszimmer und endlich in den Speisesalon. Als ich hier in die Nähe des Fensters kam, das mit schweren Vorhängen behängt ist, spürte ich, dass mir der Wind ins Gesicht blies; ich vergewisserte mich, dass es offen stand. Ich schlug die Vorhänge beiseite und fand mich einem breitschulterigen, älteren Mann gegenüber, der gerade hereingestiegen war. Es ist ein großes französisches Fenster, das in Wirklichkeit eine Tür bildet, die zum Garten führt. Ich hatte ein Licht in der Hand, und in seinem Schein sah ich hinter
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