Sherlock Holmes - gesammelte Werke
nicht entgangen war.
»Ich fürchte, dass unsere Untersuchung ein schlimmes Ende nimmt«, sagte er zu mir. »Es wird nicht mehr lange dauern, so sind wir im Klaren. Komm, Pompey! Aha, es ist das Häuschen dort mitten im Feld!«
Es war nicht mehr zweifelhaft, dass wir am Ziel angelangt waren. Pompey sprang um den Eingang herum und winselte; die Spuren der Räder waren noch sichtbar. Ein Fußpfad führte zu der einsamen Hütte. Holmes band den Hund am Zaun fest, und wir eilten darauf zu. Mein Freund pochte an die niedrige Tür, er klopfte zum zweiten Mal, aber kein Mensch machte auf. Und doch war das Häuschen nicht unbewohnt, denn es drang ein leises Geräusch an unser Ohr, eine Art Stöhnen und Jammern – es klang unsäglich traurig. Holmes blieb unentschlossen stehen, dann schaute er sich um. Ein Wagen kam heran, und wir konnten die Schimmel wiedererkennen.
»Bei Gott, der Professor kehrt noch mal zurück!«, rief Holmes. »Das treibt uns zur Tat. Wir müssen sehen, was los ist, eh’ er kommt.«
Er öffnete nun selbst die Tür, und wir traten in den Hausflur. Wir hörten das Wehklagen deutlicher. Es kam von oben. Holmes stürzte die Treppe hinauf, und ich folgte ihm. Er stieß eine halb offene Tür auf, und wir erblassten beide bei dem Anblick, der sich uns bot.
Auf einem Bett lag tot ein junges, hübsches Weib. Ihr friedliches, bleiches Gesicht mit den trüben, weitgeöffneten Augen war von goldenem Haar umrahmt. Am Bett hockte ein junger Mann, halb sitzend, halb kniend, das Gesicht in die Betttücher vergraben; sein Körper zuckte heftig vor Schluchzen. Er war so von seinem Schmerz überwältigt, dass er erst aufblickte, als ihm Holmes die Hand auf die Schulter legte.
»Sind Sie Mr Godfrey Staunton?«
»Ja, ja; ich bin’s – aber Sie kommen zu spät: Sie ist tot.«
Der Mann war so verstört, dass er nicht begreifen konnte, dass wir nicht etwa Ärzte seien, die zu Hilfe gekommen wären. Als ihm Holmes einige Worte des Trostes sagte und ihm auseinanderzusetzen suchte, dass seine Freunde durch sein plötzliches Verschwinden in große Unruhe versetzt worden seien, hörten wir Tritte auf der Treppe; und in der Tür erschien das ernste, strenge, fragende Gesicht Doktor Armstrongs.
»So, meine Herren«, redete er uns an. »Sie haben Ihren Zweck erreicht und gewiss einen besonders passenden Moment gewählt, hier einzudringen. Ich will im Angesicht des Todes nicht laut werden, aber ich kann Ihnen die Versicherung geben, dass Sie, wenn ich noch jünger wäre, wegen Ihres geradezu unverantwortlichen Benehmens nicht ohne eine gehörige Züchtigung von mir davonkämen.«
»Entschuldigen Sie, Herr Doktor Armstrong«, erwiderte mein Freund würdig, »ich glaube wir verstehen uns gegenseitig nicht. Wenn Sie mit uns hinuntergehen wollten, könnten wir diese traurige Angelegenheit wohl gegenseitig aufklären.«
Nach etwa einer Minute befanden wir uns mit dem grimmigen Professor unten im Wohnzimmer.
»Nun?«, begann er.
»In erster Linie möchte ich Ihnen sagen, dass ich nicht im Auftrag des Lord Mount-James handle und dass meine Sympathien in diesem Fall durchaus nicht aufseiten dieses Mannes sind. Wenn jemand vermisst wird, ist es meine Pflicht, mich um sein Schicksal zu kümmern. Während ich das getan habe, hat die Sache ein so unglückseliges Ende genommen, das ich von Herzen bedauere. Im Übrigen bin ich nicht der Mann, der öffentliche Skandale wünscht, sondern vielmehr darauf bedacht, Privatsachen nicht so weit kommen zu lassen; wenn nicht etwa Verbrechen vorliegen. Wenn es sich hier, wie ich glaube, um keine Gesetzesverletzung handelt, können Sie vollkommen auf meine Verschwiegenheit rechnen und auf meine Mitwirkung, dass die Angelegenheit nicht in die Zeitungen kommt.«
Dr. Armstrong ging auf meinen Freund zu und schüttelte ihm die Hand.
»Sie sind ein wackerer Mann«, sagte er. »Ich hatte Sie falsch beurteilt. Ich freue mich, dass es mir mein Gewissen nicht erlaubte, den armen Staunton in diesem Zustand allein zu lassen, und dass ich dadurch Ihre Bekanntschaft gemacht habe. Da ich so gut unterrichtet bin wie Sie, ist die Situation leicht geklärt. Vor einem Jahr wohnte Staunton eine Zeit lang in London und verliebte sich leidenschaftlich in die Tochter seiner Wirtsleute und heiratete sie. Sie war ebenso gut, wie sie schön war, und ebenso intelligent, wie sie gut war. Kein Mann braucht sich einer solchen Frau zu schämen. Aber Godfrey war der Erbe dieses griesgrämigen alten Lords, und es unterlag
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