Sherlock Holmes - gesammelte Werke
Sie hervor, ich bitte tausend Mal um Entschuldigung. Dass ich Sie so ganz vergessen konnte! Mr Smith brauche ich Ihnen nicht erst vorzustellen, da Sie ihn ja erst vor kurzem selber kennenlernten. Haben Sie eine Droschke unten, Inspektor? Sobald ich mich angezogen habe, möchte ich Ihnen folgen, denn ich kann Ihnen noch einiges Wichtige sagen, wenn wir auf Ihrer Station sind.«
Während Holmes sich ankleidete, reichte ich ihm Biskuits mit Rotwein. »Nie im Leben habe ich so etwas nötiger gehabt«, sagte er und aß gierig. »Aber Sie wissen ja, ich bin keine Regelmäßigkeit gewohnt, und so eine Hungerkur bedeutet für mich weniger als für die meisten anderen. Es war besonders wichtig, dass ich Mrs Hudson meinen kranken Zustand überzeugend vortäuschte, denn die sollte Ihnen davon erzählen und Sie wiederum ihm. Sie dürfen nicht verletzt sein, Watson. Unter Ihren vielen Fähigkeiten fehlt die Kunst der Verstellung völlig, und wenn Sie an meine Krankheit nicht geglaubt hätten, dann wäre es Ihnen nie gelungen, Mr Smith hierher zu locken. Davon aber hing alles ab. Mir war sein rachsüchtiger Charakter bekannt, und dass es ihm eine Befriedigung sein würde, zu beobachten, wie ich an seiner Bazilleninfektion sterbe.«
»Aber Ihr geisterhaftes Aussehen, Holmes! Man kann Delirium vortäuschen, aber doch nicht …«
»Wissen Sie, drei Tage fasten, das heißt also nahezu verschmachten, verschönert niemanden. Im Übrigen habe ich ja einiges schon mit dem Schwamm abgewaschen. Mit Vaseline auf die Stirn geschmiert, Belladonna in die Augen geträufelt, Schminke auf den Backen und Wachs an den Lippenrändern kann man einen ganz netten Eindruck erzielen. Mit der Kunst der Simulation habe ich mich viel beschäftigt und schreibe vielleicht noch einmal eine Monografie darüber. Ein paar unsinnige gelegentliche Worte über halbe Kronen, Austern oder sonst etwas Verrücktes täuschen selbst dem Arzt Delirium vor.«
»Aber weshalb wollten Sie nicht, dass ich Ihnen nahe käme, wo doch keine Ansteckung zu fürchten war?«
»Können Sie das fragen, Watson? Glauben Sie, ich hätte so wenig Achtung vor Ihren medizinischen Kenntnissen? Ihnen wäre es doch sofort aufgefallen, dass ein Sterbender keine normale Temperatur und keinen normalen Puls haben kann. So schwach ich auch war, Sie wollten mich doch untersuchen, und beides hätten Sie zu Ihrer Überraschung festgestellt. Auf vier Schritte Entfernung konnte ich Sie täuschen. Auf die Nähe aber nicht. Und wer hätte mir dann meinen Smith herbeigeholt? – Nein, Watson, ich würde die Dose lieber stehen lassen. Unter dem Deckel an der Seite sehen Sie ein kleines Loch. Wenn Sie den Deckel abschrauben, fährt da eine Nadelspitze heraus. Auf solch eine Art muss er seinen Neffen umgebracht haben, der zwischen ihm und seiner Erbschaft stand. Ich bin aber berufsmäßig misstrauisch, und als die Dose mit der Post ankam, roch ich Lunte. Der Trick ist nicht neu genug. Aber nun kam mir sofort der Gedanke, dass, wenn ich mich so stellte, als sei sein Anschlag gelungen, ich ihn fangen könne und er ein Geständnis von sich gebe. Es hat wunderbar geklappt, Watson. Aber bitte, geben Sie mir noch einmal die Biskuits her! Ich habe ja drei Tage Essen gut!«
Q UELLENVERZEICHNIS
Die Erzählungen dieses Bandes wurden nachfolgenden Ausgaben entnommen. Die Reihenfolge entspricht jener der jeweils genannten englischen Originalausgaben. Orthographie und Interpunktion wurden den Regeln der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst. Die Einrichtung und behutsame Überarbeitung des Textes übernahmen Waltraud John, Regina Louis und Karola Neutze.
Eine Skandalgeschichte im Fürstentum O. Aus:
Der Bund der Rothaarigen
. Stuttgart 1906, S. 54–98. (Engl. A Scandal in Bohemia. Aus:
The Adventures of Sherlock Holmes
. London 1892.)
Der Bund der Rothaarigen. Aus:
Der Bund der Rothaarigen
. Stuttgart 1906, S. 7–53. (Engl. The Adventure of the Red-Headed League. Aus:
The Adventures of Sherlock Holmes
. London 1892.)
Ein Fall geschickter Täuschung. Aus:
Der Bund der Rothaarigen
. Stuttgart 1906, S. 99–134. (Engl. A Case of Identity. Aus:
The Adventures of Sherlock Holmes
. London 1892.)
Der geheimnisvolle Mord im Tal von Boscombe. Aus:
Der Bund der Rothaarigen
. Stuttgart 1906, S. 135–185. (Engl. The Boscombe Valley Mystery. Aus:
The Adventures of Sherlock Holmes
. London 1892.)
Fünf Apfelsinenkerne. Aus:
Fünf Apfelsinenkerne
. Stuttgart 1907, S. 7–42. (Engl. The Five Orange Pips. Aus:
The
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