Sherlock Holmes - gesammelte Werke
solchen Verfolgungen zu leiden gehabt hätten, und wir hatten den Eindruck, dass er den Volksglauben in diesem Fall vollkommen teile.
Auf dem Rückweg kehrten wir zum Frühstück in Merripit House ein, und hier machte Sir Henry Miss Stapletons Bekanntschaft. Vom ersten Augenblick an schien er sich stark zu ihr hingezogen zu fühlen, und ich müsste mich sehr irren, wenn das Gefühl nicht gegenseitig ist. Auf dem Heimweg fing er immer wieder an, von ihr zu sprechen, und seitdem ist kaum ein Tag vergangen, an dem wir das Geschwisterpaar nicht gesehen haben. Heute Abend speisen sie hier, und es ist davon die Rede, dass wir nächste Woche zu ihnen eingeladen werden sollen. Man sollte denken, eine solche Partie müsste Stapleton sehr willkommen sein, indessen habe ich mehr als einmal auf seinem Gesicht einen Ausdruck schärfster Missbilligung gelesen, wenn Sir Henry seiner Schwester irgendein Kompliment machte. Stapleton ist ihr freilich ohne allen Zweifel sehr zugetan und sein Leben würde ja sehr einsam werden, wenn sie von ihm ginge, aber es wäre doch der Gipfel der Selbstsucht, wenn er ihr bei einer so überaus glänzenden Heirat Hindernisse in den Weg legen wollte. Aber so viel steht für mich fest: Er wünscht nicht, dass ihr vertrauter Verkehr sich zu Liebe entwickelt, und ich habe verschiedene Male bemerkt, dass er sich bemühte, ein Zusammensein unter vier Augen zu verhindern. Nebenbei bemerkt, wird Ihre Weisung, ich dürfte Sir Henry niemals allein ausgehen lassen, noch viel lästiger werden, wenn zu unseren anderen Schwierigkeiten auch noch eine Liebesgeschichte hinzukäme. Meine Beliebtheit würde sehr bald ins Wanken geraten, wenn ich Ihre Vorschriften in diesem Punkt buchstäblich ausführte.
Neulich – um den Tag ganz genau zu bezeichnen: am Donnerstag – frühstückte Dr. Mortimer bei uns. Er hat in Long Down einen Grabhügel untersucht und einen prähistorischen Schädel gefunden, der ihn mit großer Freude erfüllt. Er ist ein ganz einzig dastehender Enthusiast! Nach dem Essen kamen auch die Stapletons, und der gute Doktor führte uns alle zur Taxusallee, um uns auf Sir Henrys Bitten genau zu erklären, wie der Vorgang in der verhängnisvollen Nacht sich abspielte.
Die Taxusallee ist ein langer öder Weg zwischen zwei hohen geschorenen Wänden; ein schmaler Grasstreifen befindet sich an jeder Seite. Ungefähr auf halbem Weg ist die Moorpforte, wo der alte Herr seine Zigarrenasche abgestreift hatte. Es ist eine weiße Lattentür, die mit einem Riegel verschlossen ist. Dahinter erstreckt sich das weite Moor. Ich erinnerte mich der von Ihnen aufgestellten Mutmaßung über den Hergang und versuchte mir ein Bild davon zu machen. Als der alte Herr an der Pforte stand, sah er irgendetwas über das Moor kommen, irgendein Etwas, das ihn so in Schrecken setzte, dass er die Besinnung verlor und rannte und rannte, bis er vor reiner Angst und Erschöpfung tot hinfiel. Was verfolgte ihn? Ein Schäferhund vom Moor? Oder ein schwarzer, schweigender, ungeheurer Gespensterhund? Waren Menschenhände dabei im Spiel? Wusste der wachsame blasse Barrymore mehr, als er sagen wollte? Alles ist schwankend und unbestimmt, aber überall steht der dunkle Schatten eines Verbrechens hinter diesem Rätsel.
Seitdem ich meinen letzten Brief schrieb, habe ich noch einen anderen Nachbarn kennengelernt: Mr Frankland von Laster Hall, vier Meilen von uns in südlicher Richtung gelegen. Er ist ein älterer Herr mit rotem Gesicht, weißem Haar und höchst cholerischer Gemütsanlage. Seine Leidenschaft ist das britische Recht, und er hat ein bedeutendes Vermögen in Prozessen draufgehen lassen. Er kämpft aus reiner Lust am Kampf und ist stets bereit, die eine oder die andere Seite eines Rechtsstreites zu seiner Sache zu machen; kein Wunder daher, dass er sein Vergnügen als recht kostspielig befunden hat. Zuweilen erlässt er ein Verbot, irgendeinen Weg zu benutzen; dann muss die Gemeinde erst einen Prozess führen, um die Öffnung desselben durchzusetzen. Dann wieder reißt er eigenhändig irgendein anderen Leuten gehörendes Torgatter nieder und behauptet, es habe seit undenklichen Zeiten an der betreffenden Stelle ein freier Weg existiert. Dann muss der Eigentümer ebenfalls erst einen Prozess führen, um ihn zur Buße zu ziehen.
Er besitzt bedeutende Kenntnisse von alten Rechten der verschiedenen Gemeinden und Gutsherrschaften und verwendet diese Kenntnisse zuweilen zu Gunsten der Einwohner von Fernworthy, zuweilen aber auch gegen
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