Sherlock Holmes - gesammelte Werke
war. Mit diesem Gedanken beschäftigte ich mich den Morgen über, und ich wollte Ihnen meinen Verdacht doch jedenfalls mitteilen, wenngleich der Lauf der Ereignisse wohl dargetan haben dürfte, dass derselbe unbegründet war.
Aber mochte nun Barrymores nächtliches Herumwandern hiermit oder auf eine andere Weise zu erklären sein – ich fühlte, dass die Verantwortlichkeit, das Rätsel so lange für mich allein zu behalten, bis ich selber die Lösung gefunden, zu schwer auf mir lasten würde. Ich suchte also nach dem Frühstück den Baronet in seinem Arbeitszimmer auf und teilte ihm alles mit, was ich gesehen hatte. Er war weniger überrascht, als ich es erwartet hatte.
»Ich wusste bereits«, sagte er, »dass Barrymore nächtlicherweile herumgeht, und hatte die Absicht, mit ihm darüber zu sprechen. Zwei- oder dreimal habe ich, gerade um die von Ihnen genannte Stunde, seine Schritte im Korridor kommen und gehen hören.«
»Dann macht er also vielleicht jede Nacht den Gang zu jenem Fenster?«
»Kann sein. Wenn es der Fall wäre, könnten wir ihm ja heimlich nachgehen und sehen, was er dort treibt. Was würde wohl Ihr Freund Holmes tun, wenn er hier wäre?«
»Vermutlich genau dasselbe, was Sie soeben anregten«, antwortete ich. »Er würde Barrymore nachgehen und mit eigenen Augen sehen, was er macht.«
»Dann wollen wir zusammen gehen!«
»Aber er würde uns ganz gewiss hören!«
»Der Mann ist ziemlich schwerhörig – aber einerlei, wir müssen es darauf ankommen lassen. Wir wollen heute Nacht aufbleiben und in meinem Zimmer warten, bis er vorbeikommt.«
Sir Henry rieb sich vergnügt die Hände; augenscheinlich begrüßte er das Abenteuer als eine Abwechslung in seinem so ruhigen Leben auf dem Moor.
Der Baronet hat sich mit dem Baumeister, der für Sir Charles die Pläne entworfen hatte, und auch mit einem Londoner Bauunternehmer in Verbindung gesetzt; wir können daher erwarten, dass hier in kurzer Zeit große Veränderungen platzgreifen. Möbellieferanten und Tapezierer waren von Plymouth hier, und es geht aus allem hervor, dass unser Freund sich mit großen Plänen trägt, und weder Geld noch Mühe zu sparen gedenkt, um den alten Glanz seiner Familie wiederherzustellen. Wenn das Haus umgebaut und neu eingerichtet ist, fehlt bloß noch eine Frau, um es vollständig zu machen. Unter uns gesagt: Es geht aus recht deutlichen Anzeichen hervor, dass es daran nicht fehlen wird, wenn nur die Dame will, denn ich habe selten jemand so verliebt gesehen, wie er’s in unsere schöne Nachbarin, Miss Stapleton ist. Es geht jedoch mit dieser Liebe nicht so sacht und eben, wie man’s den Umständen nach erwarten sollte. Heute zum Beispiel kam ganz unerwartet etwas in die Quere, was unseren Freund sehr überrascht und geärgert hat.
Nach der soeben geschilderten Unterhaltung betreffs Barrymores setzte Sir Henry seinen Hut auf und machte sich zum Ausgehen fertig. Natürlich tat ich dasselbe.
»Was, gehen Sie auch aus, Watson?«, fragte er, indem er mich ganz sonderbar ansah.
»Das kommt darauf an, ob Sie aufs Moor hinausgehen«, antwortete ich.
»Jawohl, das tue ich.«
»Nun, Sie wissen, was für Vorschriften ich habe. Es tut mir leid, mich aufzudrängen, aber Sie hörten ja selbst, wie ernstlich Holmes darauf bestand, dass ich Ihnen nicht von der Seite gehen, und besonders, dass ich Sie nicht allein aufs Moor hinauslassen dürfte.«
Sir Henry legte mit einem freundlichen Lächeln seine Hand auf meine Schulter und sagte:
»Mein lieber Junge, Holmes hat in aller seiner Weisheit gewisse Dinge nicht vorausgesehen, die sich während meines Aufenthaltes hier auf dem Moor zugetragen haben. Sie verstehen mich! Ich bin gewiss, Sie sind der Letzte, der den Spielverderber machen möchte. Ich muss allein gehen.«
Das brachte mich in eine höchst unangenehme Lage. Ich wusste nicht, was ich sagen oder machen sollte, und bevor ich mit mir selbst im Reinen war, hatte er seinen Stock aus der Ecke genommen und war gegangen.
Als ich mir dann aber die Sache recht überdachte, machte ich mir in meinem Gewissen die bittersten Vorwürfe, dass ich ihn unter irgendwelchem Vorwand aus den Augen gelassen hatte. Ich malte mir aus, mit welchen Gefühlen ich Ihnen vor Augen treten würde, wenn ich bekennen musste, es hätte sich durch meine Vernachlässigung Ihrer Vorschriften irgendein Unglück zugetragen. Ich kann Ihnen sagen, bei dem bloßen Gedanken errötete ich! Dann fiel mir ein, es könnte vielleicht noch nicht zu spät sein,
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