Sherlock Holmes - gesammelte Werke
Praktische gerichteten Geist sehr wenig interessant vorkommen. Ich erinnere mich noch sehr gut, wie völlig gleichgültig es Ihnen war, ob die Sonne sich um die Erde oder ob die Erde sich um die Sonne bewegt. Ich will mich also wieder den mit Sir Henry Baskerville in Verbindung stehenden Tatsachen zuwenden. Dass Sie in den letzten Tagen keinen Bericht erhielten, erklärt sich daraus, dass nichts von Bedeutung zu melden war. Dann aber trat ein ganz überraschender Umstand ein, mit welchem ich Sie im Verlauf meiner Darstellung bekannt machen werde. Vor allen Dingen aber muss ich Sie mit einigen anderen Momenten in Fühlung bringen. Eines von diesen ist die von mir bisher nur flüchtig erwähnte Entweichung des Zuchthäuslers von Princetown. Er hatte das Moor erreicht; jetzt ist aber mit gutem Grund anzunehmen, dass er die Gegend gänzlich verlassen hat, was für die einsam wohnenden Landleute dieser Gegend eine froh empfundene Erleichterung von schwerer Sorge ist. Seit seiner Flucht sind zwei Wochen vergangen, und während dieser ganzen Zeit hat man von ihm weder etwas gesehen noch gehört. Dass er diese vierzehn Tage über sich auf dem Moor habe halten können, erscheint ausgeschlossen. Verbergen hätte er sich natürlich mit der größten Leichtigkeit können. Jede beliebige Steinhütte von dem prähistorischen Volk könnte ihm als Versteck dienen. Aber er würde nichts zu essen finden, wenn er nicht etwa ein Moorschaf finge und schlachtete. Wir glauben daher, dass er fort ist, und die Pächter am Moorrand schlafen jetzt wieder viel besser.
Wir im Schloss sind vier rüstige Männer, könnten uns also eines Angriffes leicht erwehren; aber ich gestehe, dass ich mir um die Stapletons Unruhe und Sorge gemacht habe. Sie wohnen meilenweit von jeder menschlichen Hilfe entfernt. In ihrem Haus sind ein Dienstmädchen, der alte Diener, die Schwester und der Bruder, und dieser letztere ist kein sehr kräftiger Mann. Sie wären widerstandsunfähig, sobald ein verzweifelter Bursche, wie der Mörder von Notting Hill, in ihr Haus eingedrungen wäre. Sir Henry begriff ebenso gut die Gefährlichkeit ihrer Lage und schlug ihnen vor, den Stallknecht Perkins zu ihnen zu schicken, um in Merripit House zu schlafen, aber Stapleton wollte nichts davon wissen.
Es lässt sich nicht leugnen, dass unser Freund, der Baronet, ein bedeutendes Interesse an unserer schönen Nachbarin zu zeigen beginnt. Das ist auch kein Wunder, denn einem so sehr an Tätigkeit gewöhnten Mann wie Sir Henry muss hier wohl die Zeit lang werden, und sie ist ein bezaubernd schönes Weib. Sie hat etwas Tropisches, Exotisches an sich, was in eigenartiger Weise von dem kühlen und verstandesmäßigen Wesen ihres Bruders absticht. Doch muss ich manchmal denken, dass auch in ihm verborgenes Feuer glüht. Ganz gewiss übt er auf sie einen sehr bedeutenden Einfluss aus, denn ich habe bemerkt, dass sie beim Sprechen fortwährend nach ihm hinsieht, als wollte sie bei jedem Wort, das sie sagt, sich seines Einverständnisses versichern. Ich will hoffen, dass er sie freundlich behandelt. In seinen Augen liegt ein kalter Glanz, und um seine dünnen Lippen zeigt sich ein fester Zug; beides lässt auf einen bestimmten und möglicherweise etwas herben Charakter schließen. Sie würden ihn mit Interesse näher studieren.
Schon am ersten Tag machte er Sir Henry seinen Besuch, und gleich am anderen Morgen nahm er uns mit zu der Stelle, wo der Sage nach der verruchte Hugo seinen Tod fand. Der Ort liegt ein paar Meilen jenseits des Moors und macht einen so traurigen Eindruck auf das Gemüt, dass man das Entstehen der Sage sehr wohl begreift. Zwischen schroffen Felsen führt ein kurzes Tal auf einen offenen grasbewachsenen Raum, in dessen Mitte zwei große Steine mit scharfen Spitzen wie die riesigen Fangzähne eines ungeheuren Raubtiers aus dem Boden emporragen. Der Platz entspricht in jeder Beziehung der Szene der alten Tragödie, wie die Sage sie überliefert hat. Sir Henry fragte Stapleton mehr als einmal, ob er wirklich an die Möglichkeit glaube, dass übernatürliche Mächte sich in die Geschicke sterblicher Menschen einmischen könnten. Er sagte das in scherzendem Ton, aber es war leicht zu merken, dass er die Sache vollkommen ernst meinte. Stapleton war in seinen Antworten vorsichtig; er sagte offenbar nicht alles, was er dachte, und hielt mit seiner wahren Meinung aus Rücksicht auf die Gefühle des Baronets zurück. Er erzählte von ähnlichen Fällen, wobei Familien unter
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