Sherlock Holmes - gesammelte Werke
ihm deshalb gefolgt wäre und den ganzen Vorfall mit angesehen hätte. Zuerst sah er mich mit funkelnden Augen an, aber meine Freimütigkeit entwaffnete seinen Zorn, und zuletzt brach er in ein allerdings ziemlich trauriges Lachen aus und sagte:
»Man hätte doch denken sollen, dass mitten auf dieser Ebene jemand ungestört seinen Privatangelegenheiten nachgehen könnte; aber, zum Donnerwetter, die ganze Nachbarschaft scheint sich auf die Beine gemacht zu haben, um sich meine Liebeswerbung anzusehen – freilich, eine recht klägliche Liebeswerbung. Welchen Platz hatten Sie denn, Doktor?«
»Ich war da oben auf dem Hügel.«
»Also Stehplatz ganz hinten. Dafür aber war ihr Bruder ganz vorn, sozusagen Orchesterfauteuil. Sahen Sie ihn auf uns loskommen?«
»Ja.«
»Machte er je auf Sie den Eindruck, dass er verrückt ist – ich meine ihren Bruder?«
»Das kann ich nicht von ihm sagen.«
»Ich auch nicht. Ich hielt ihn bis heute für vollkommen vernünftig, aber glauben Sie mir, entweder er oder ich gehören in eine Zwangsjacke. Nun, wie steht’s denn mit mir? Sie haben jetzt mehrere Wochen in meiner Gesellschaft gelebt, Watson. Sagen Sie mir frei heraus: Ist an mir irgendetwas, das mich verhindern würde, für das Weib, das ich liebe, ein guter Gatte zu sein?«
»Das kann man ganz gewiss nicht behaupten!«
»Gegen meine Stellung in der Welt kann er nichts einzuwenden haben, also muss ich selber ihm nicht recht sein. Was hat er gegen mich? Ich habe, so viel ich weiß, meiner Lebtage weder Mann noch Weib was zuleide getan. Und dabei will er mich nicht mal ihre Fingerspitzen anrühren lassen.«
»Sagte er das?«
»Das und noch viel mehr. Wissen Sie, Watson, ich habe sie erst diese paar Wochen gekannt, aber vom ersten Augenblick an fühlte ich, dass sie für mich geschaffen war, und auch sie – sie war glücklich, wenn sie mit mir zusammen war, darauf will ich schwören. In einem Frauenauge ist ein gewisser Glanz, der deutlicher spricht als Worte. Aber er ließ uns nie ungestört beisammen sein und heute zum ersten Mal ergab sich die Möglichkeit, ein paar Worte mit ihr unter vier Augen zu sprechen. Sie freute sich ebenfalls, mit mir zusammen zu kommen, aber als wir uns dann trafen, wollte sie nichts von Liebe hören, geschweige denn selbst davon sprechen. Fortwährend kam sie darauf zurück, dass die Gegend gefahrvoll wäre und dass sie nicht mehr glücklich sein könnte, als bis ich den Ort verlassen hätte. Ich sagte ihr: Seit ich sie gesehen, hätte ich’s mit der Abreise durchaus nicht eilig, und wenn sie wirklich wünschte, dass ich ginge, gebe es kein anderes Mittel, als wenn sie mit mir ginge. Und ich bot ihr in beredten Worten mich als Gatten an; aber bevor sie antworten konnte, kam ihr Bruder auf uns losgesprungen mit einem Gesicht wie ein Irrsinniger. Er war kreideweiß vor Wut, und seine hellblauen Augen schleuderten Blitze. Was machte ich da mit der Dame? Wie könnte ich’s wagen, ihr Aufmerksamkeiten zu erweisen, die ihr nicht willkommen wären. Glaubte ich vielleicht, weil ich Baronet wäre, könnte ich tun, was mir gefiele?
Wäre er nicht ihr Bruder gewesen, hätte ich wohl die richtige Antwort für ihn gehabt. So begnügte ich mich damit ihm zu sagen, meine Gesinnungen gegen seine Schwester wären von der Art, dass ich mich ihrer nicht zu schämen brauchte, und ich hoffte, sie würde mir die Ehre erweisen, mein Weib zu werden. Diese Erklärung hatte aber anscheinend keine Wirkung; da verlor auch ich die Geduld und antwortete ihm hitziger, als ich’s wohl eigentlich hätte dürfen, da sie ja neben uns stand. Das Ende vom Lied war, dass er mit ihr fortging, wie Sie sahen, und hier stehe ich nun und bin ganz außer Rand und Band. Sagen Sie mir doch um Gottes willen, Watson, was dies alles bedeutet!«
Ich versuchte ein paar Erklärungen des Rätsels zu geben, aber ich war in der Tat selber vollkommen verblüfft. Unseres Freundes Adelstitel, sein Vermögen, sein Alter, sein Charakter, seine äußere Erscheinung – dies alles spricht zu seinen Gunsten, und ich weiß nicht, was man überhaupt gegen ihn anführen könnte – abgesehen etwa von dem düsteren Verhängnis, das seine Familie verfolgt. Dass seine Anträge so schroff zurückgewiesen werden, ohne dass die Dame überhaupt nur um ihre Meinung gefragt wird, und dass die Dame sich ohne ein Wort des Protestes in diese Lage fügt – das ist sehr überraschend. Wir wurden indessen der Beschäftigung mit unseren Mutmaßungen bald
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