Sherlock Holmes - gesammelte Werke
überhoben, indem der Bruder noch am selben Nachmittag einen Besuch auf Baskerville Hall machte. Er kam, um sich wegen seines ungezogenen Benehmens zu entschuldigen, und das Endergebnis einer langen Unterredung, die er mit Sir Henry unter vier Augen in dessen Arbeitszimmer hatte, ist, dass der Bruch vollkommen wieder ausgeglichen ist und dass wir zum Zeichen der Versöhnung am Freitag nach Merripit House zum Essen kommen sollen.
»Ich will nicht behaupten, dass er nicht verrückt ist!«, sagte Sir Henry zu mir. »Ich kann den Ausdruck nicht vergessen, der in seinen Augen lag, als er heute früh auf mich losstürzte, aber ich muss zugeben, dass niemand eine bessere Entschuldigung vorbringen konnte, als er es getan hat.«
»Gab er irgendeine Erklärung für sein Benehmen?«
»Er sagt, seine Schwester sei alles und jedes in seinem Leben. Das ist ja auch ganz natürlich, und ich freue mich sogar darüber, dass er ihren Wert zu schätzen weiß. Sie sind immer zusammen gewesen, und er war, wie er sagt, jederzeit ein einsamer Mann, der niemals andere Gesellschaft hatte außer ihr; der Gedanke, sie verlieren zu müssen, sei für ihn daher geradezu fürchterlich gewesen. Er hätte nichts davon gemerkt, dass sich ein Verhältnis zwischen uns anbahnte, als er es dann aber mit eigenen Augen gesehen hätte und ihm zum Bewusstsein gekommen wäre, dass sie ihm vielleicht genommen würde, da hätte ihm das einen solchen Stoß gegeben, dass er eine Zeit lang nicht gewusst hätte, was er sagte oder tat. Der ganze Vorfall täte ihm außerordentlich leid, und er müsste zugeben, dass es töricht und selbstsüchtig von ihm sei sich einzubilden, dass er ein schönes Mädchen wie seine Schwester ihr ganzes Leben lang für sich behalten könnte. Wenn sie ihn denn doch verlassen müsste, wäre es ihm noch lieber, ein Nachbar wie ich bekäme sie als sonst jemand. Aber jedenfalls wäre es ein harter Schlag für ihn, und er bedürfte einer gewissen Zeit, um sich damit abzufinden. Er wollte seinerseits auf jeden Widerstand verzichten, wenn ich dafür verspräche, drei Monate lang die Angelegenheit ruhen zu lassen, um mich damit zu begnügen, während dieser Zeit der Dame meine Freundschaft zu bezeigen und nicht um ihre Liebe zu werben. Das versprach ich ihm, und somit ist die Sache vorläufig erledigt.«
So ist also eines von unseren kleinen Geheimnissen aufgeklärt! Es ist immerhin schon etwas, in diesem Morast, worin wir uns bewegen, wenigstens an einer Stelle auf festen Grund gekommen zu sein. Wir wissen jetzt, warum Stapleton mit so scheelen Blicken auf seiner Schwester Freier sah, obwohl dieser Freier ein so begehrenswerter Mann ist wie Sir Henry.
Und nun komme ich zu dem anderen Faden, den ich aus dem wirren Knäuel frei gemacht habe, zu dem Geheimnis der nächtlichen Seufzer, der Tränenspuren auf Mrs Barrymores Gesicht, der verstohlenen Wanderungen des Schlossverwalters zu dem Fenster an der westlichen Seite des Hauses. Wünschen Sie mir Glück, mein lieber Holmes, und sagen Sie mir, dass ich Sie in meiner Tätigkeit als Ihr Abgesandter nicht enttäuscht habe – dass Ihnen das Vertrauen, das Sie mir mit Übertragung dieser Sendung bezeigten, nicht leid tut. Alle diese dunklen Punkte sind durch die Tätigkeit einer einzigen Nacht vollkommen aufgeklärt worden.
Ich sagte: ›durch die Tätigkeit einer einzigen Nacht‹, aber in Wirklichkeit brauchten wir zwei Nächte dazu, denn in der ersten war unsere Mühe völlig vergeblich. Ich saß mit Sir Henry bis gegen drei Uhr früh in seinem Zimmer auf, aber kein Laut irgendwelcher Art ließ sich vernehmen; nur die Wanduhr auf dem Treppenflur hörten wir schlagen. Es war eine höchst melancholische Nachtwache, die damit endete, dass wir alle beide in unseren Stühlen einschliefen. Zum Glück waren wir durch unseren Misserfolg nicht entmutigt, sondern beschlossen, noch einen Versuch zu machen. Am nächsten Abend schraubten wir wieder unser Lampenlicht niedrig und saßen Zigaretten rauchend in lautloser Stille da. Die Stunden schlichen mit unglaublicher Langsamkeit dahin; doch half uns eine Art von geduldiger Neugier darüber hinweg, wie wohl der Jäger sie spüren mag, der neben einer Falle, in der er ein wildes Tier zu fangen hofft, auf der Lauer liegt.
Es schlug eins – dann zwei – und wir hätten es beinahe zum zweiten Mal, am Erfolg verzweifelnd, aufgegeben – da plötzlich richteten wir uns beide zugleich kerzengerade in unseren Stühlen auf; alle unsere Sinne waren aufs
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