Sherlock Holmes - gesammelte Werke
und was für ’ne Verschwörung ist hier im Gange?«
Barrymores Gesicht nahm plötzlich einen trotzigen Ausdruck an; er sagte:
»Das ist meine Sache und nicht Ihre. Ich sage nichts!«
»Dann verlassen Sie auf der Stelle meinen Dienst.«
»Sehr wohl, Herr. Wenn es sein muss, tu ich’s!«
»Und mit Schimpf und Schande gehen Sie aus meinem Haus! Zum Donnerwetter, Sie sollten sich doch schämen! Ihre Familie hat mit der meinigen seit einem Jahrhundert unter diesem Dach gewohnt, und hier finde ich Sie in eine lichtscheue Verschwörung gegen mich verwickelt!«
»Nein, Herr, nein! Nicht gegen Sie!«
Es war eine weibliche Stimme, die diese Worte sprach, und als wir uns umdrehten, sahen wir Mrs Barrymore noch bleicher und verstörter, als ihr Mann es war, in der Tür stehen. Ihre vierschrötige Gestalt, die in einen Unterrock und ein Umschlagetuch gehüllt war, machte fast einen komischen Eindruck; dieser verschwand jedoch sofort, wenn man den Ausdruck tiefer Angst auf ihrem Gesicht bemerkte.
»Wir müssen gehen, Eliza. Das ist das Ende vom Lied. Du kannst unsere Sachen packen!«, sagte der Mann.
»Oh, John, John, habe ich dich dahin gebracht? Es ist meine Schuld, Sir Henry – nur meine ganz allein. Er hat nichts getan, als um mir zu Gefallen zu sein, und weil ich ihn darum bat.«
»Dann heraus mit der Sprache! Was bedeutet dies alles?«
»Mein unglücklicher Bruder irrt hungernd auf dem Moor umher. Wir können ihn nicht unmittelbar vor unserer Tür umkommen lassen. Das Licht ist ein Zeichen für ihn, dass wir Lebensmittel für ihn bereithalten, und das Licht dort drüben bezeichnet die Stelle, wohin wir das Essen bringen müssen.«
»Dann ist also Ihr Bruder ...?«
»Der entsprungene Sträfling, ja, Herr ... der Verbrecher Selden.«
»Das ist die Wahrheit, Herr«, bestätigte Barrymore. »Ich sagte Ihnen, es wäre nicht mein Geheimnis, und ich könnte Ihnen nichts sagen. Aber nun haben Sie es selber gehört, und Sie werden einsehen, dass gegen Sie keine Verschwörung vorhanden war, wenn überhaupt von einer solchen die Rede sein kann.«
Das also war die Erklärung des heimlichen nächtlichen Herumschleichens und des an das Fenster gehaltenen Lichtes! Sir Henry und ich starrten ganz verdutzt die Frau an. War es möglich, konnte diese augenscheinlich beschränkte, aber dabei ehrbare Person vom selben Fleisch und Blut sein wie einer der berüchtigtsten Verbrecher im ganzen Land?
»Ja, Herr!«, fuhr sie fort. »Ich hieß früher Selden, und er ist mein jüngerer Bruder. Wir verzogen ihn zu sehr, als er ein kleiner Knirps war, und ließen ihm in allem seinen Willen, bis er zuletzt dachte, die ganze Welt sei nur zu seinem Vergnügen da, und er könne tun, was ihm gefiele. Als er dann älter wurde, kam er in schlechte Gesellschaft, und der Teufel wurde Herr über ihn, bis er zuletzt meiner Mutter Herz brach und unseren guten Namen in den Dreck zog. Von Verbrechen zu Verbrechen sank er immer tiefer und tiefer, und nur Gottes Gnade hat ihn vor dem Galgen bewahrt. Für mich aber, Herr, war er immer der krausköpfige kleine Junge, den ich als ältere Schwester aufgezogen und mit dem ich gespielt hatte. Deshalb brach er aus dem Zuchthaus aus, Herr. Er wusste, dass ich hier war und ihm nicht meine Hilfe verweigern würde. Und als er sich dann eines Nachts abgemattet und halb verhungert an unsere Tür schleppte und die Aufseher ihm dicht auf der Spur waren – ja, was konnten wir da tun? Wir ließen ihn ein und gaben ihm zu essen und pflegten ihn. Dann kamen Sie hierher, Herr, und mein Bruder dachte, es wäre sicherer für ihn draußen auf dem Moor, bis der erste Lärm und die Hetzjagd vorüber wäre; deshalb verbarg er sich draußen. Aber jede zweite Nacht vergewisserten wir uns, ob er noch da wäre, indem wir ein Licht ins Fenster stellten, und wenn er auf dieses Zeichen antwortete, brachte mein Mann ihm Brot und Fleisch hinaus. Jeden Tag hofften wir, er wäre fort, aber so lange er noch hier war, konnten wir ihn nicht im Stich lassen. Das ist die ganze Wahrheit – so war ich eine ehrliche Christin bin, und Sie werden einsehen, wenn dabei jemand zu tadeln ist, fällt der Vorwurf nicht auf meinen Mann, sondern nur auf mich allein, denn nur um meinetwillen hat er alles getan.«
Die Frau sprach mit solchem Ernst, dass man von ihrer Wahrhaftigkeit überzeugt sein musste.
»Ist dies wahr, Barrymore?«
»Ja, Sir Henry! Vom ersten bis zum letzten Wort!«
»Nun, ich kann Sie nicht dafür tadeln, dass Sie Ihrer Frau
Weitere Kostenlose Bücher