Sherlock Holmes - gesammelte Werke
ganz gehörig durchgearbeitet, das können Sie mir glauben. Ich hatte ausgezeichnete Vorkehrungen getroffen, und die Berichte gelangten nur um einen einzigen Tag verspätet in meine Hände. Ich muss Ihnen meine allergrößten Komplimente machen zu dem Eifer und der Intelligenz, die Sie bei einem so ungewöhnlich schwierigen Fall bewiesen haben.«
Ich war immer noch etwas empfindlich wegen der Komödie, die Holmes mit mir gespielt hatte, aber sein warmes Lob verscheuchte doch meinen Ärger. Ich fühlte auch innerlich, dass er mit dem, was er sagte, im Grunde genommen völlig recht hatte, und dass es in der Tat für unsere Absichten besser gewesen war, dass ich von seiner Anwesenheit auf dem Moor nichts gewusst.
»So ist’s besser!«, sagte Holmes, als er den Schatten von meinen Gesichtszügen verschwinden sah. »Und nun erzählen Sie mir, was Sie mit Ihrem Besuch bei Mrs Laura Lyons ausgerichtet haben – dass Sie bei ihr gewesen waren, konnte ich unschwer erraten, denn sie ist in Coombe Tracey die einzige Person, die in dieser Angelegenheit für uns von Nutzen sein kann. In der Tat, wären Sie nicht heute bei ihr gewesen, wäre ich aller Wahrscheinlichkeit nach morgen selber zu ihr hingegangen.«
Die Sonne war untergegangen, und die Dämmerung senkte sich auf das Moor herab. Die Luft war kühl geworden und wir zogen uns daher in die Hütte zurück, wo es wärmer war. Dort saßen wir im Zwielicht nebeneinander und ich berichtete Holmes meine Unterhaltung mit der Dame. Sie interessierte ihn in so hohem Grad, dass ich manche Stelle wiederholen musste, ehe er sich für befriedigt erklärte.
»Dies ist von höchster Wichtigkeit!«, rief er, als ich fertig war. »Eine Lücke in diesem sehr verwickelten Fall, die ich nicht überbrücken konnte, ist jetzt ausgefüllt. Sie wissen vielleicht, dass zwischen der Dame und diesem Stapleton eine sehr innige Vertraulichkeit besteht?«
»Von enger Vertraulichkeit war mir nichts bekannt.«
»In dieser Beziehung kann kein Zweifel obwalten. Sie kommen zusammen, sie schreiben sich, es herrscht zwischen ihnen ein vollkommenes Einverständnis. Nun, durch Ihre Unterredung haben wir eine sehr wirksame Waffe in unsere Hände bekommen. Wenn ich diese nur anwenden könnte, um seine Frau von ihm abzubringen ...«
»Seine Frau?«
»Ja, jetzt bekommen Sie von mir etwas Neues zu hören zum Austausch für all das, was ich durch Sie erfahren habe. Die Dame, die hier für Miss Stapleton gegolten hat, ist in Wirklichkeit seine Frau.«
»Um Himmels willen, Holmes! Sind Sie auch dessen sicher, was Sie da sagen? Wie hätte er Sir Henry erlauben können, sich in sie zu verlieben?«
»Wenn Sir Henry sich in sie verliebte, konnte das keinem Menschen etwas schaden als nur dem Baronet selber. Er passte mit ganz besonderer Sorgfalt darauf auf, dass Sir Henry seine Liebe zu ihr nicht in Handlungen umsetzte; das haben Sie ja selber bemerkt. Ich wiederhole, die Dame ist seine Frau und nicht seine Schwester.«
»Aber wozu diese umständliche Täuschung?«
»Weil er vorausgesehen hatte, dass sie ihm im Charakter einer Unverheirateten von viel größerem Nutzen sein würde.«
Alle meine unausgesprochenen instinktiven Verdachtsgründe nahmen plötzlich bestimmte Formen an, und alles sprach gegen den Naturforscher. In diesem leidenschaftslosen blassen Mann mit seinem Strohhut und dem Schmetterlingsnetz glaubte ich jetzt ein furchtbares Wesen zu sehen – ein Geschöpf voll unendlicher Geduld und Geschicklichkeit, mit lächelndem Antlitz und einem Mörderherzen.
»So ist also er unser Feind – er war es, der uns in London nachspürte?«
»Das halte ich für des Rätsels Lösung.«
»Und die Warnung – die muss dann von ihr gekommen sein!«
»Ganz gewiss.«
Ein furchtbares Schurkenwerk, halb gesehen, halb nur geahnt, trat aus der Dunkelheit hervor, die mich so lange umfangen gehalten hatte.
»Aber sind Sie auch Ihrer Sache sicher, Holmes? Woher wissen Sie, dass sie seine Frau ist?«
»Weil er sich so weit vergessen hatte, Ihnen beim ersten Zusammentreffen ein Stück seiner wirklichen Lebensgeschichte zu erzählen, und verlassen Sie sich darauf, das hat ihm seither schon manches Mal leid getan. Er hatte wirklich früher eine Schule in Nordengland. Nun kann man über keinen Menschen leichter etwas erfahren als über einen Schullehrer. Es gibt Stellenvermittlungsagenten für Lehrer, durch die man die Identität eines jeden feststellen kann, der einmal diesem Beruf angehört hat. Durch eine kleine
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