Sherlock Holmes - Im Zeichen der Vier
die mit Erhitzen von Retorten und Destillieren der Dämpfe
einherging und zuletzt mit einem Geruch endete, der mich gänzlich aus der Wohnung trieb. Bis in die frühen Morgenstunden konnte ich das Klirren der Reagenzgläser hören, aus dem ich entnehmen konnte, daß er immer noch mit seinen übelriechenden Experimenten beschäftigt war.
In der Morgenfrühe fuhr ich aus dem Schlaf hoch und war erstaunt, ihn neben meinem Bett stehend zu finden, wie ein Seemann gekleidet, mit einer dicken Jacke und einem groben roten Halstuch.
»Ich hau' jetzt ab, zum Fluß hinunter, Watson«, sagte er. »Ich habe es gründlich überdacht und kann nur einen Ausweg sehen. Es ist für alle Fälle den Versuch wert.«
»Dann kann ich doch bestimmt mit Ihnen kommen?« fragte ich.
»Nein, Sie können viel nützlicher sein, wenn Sie als mein Vertreter hierbleiben. Ich gehe nur ungern, denn es liegt ziemlich klar auf der Hand, daß tagsüber eine Nachricht kommen kann, obwohl Wiggins letzte Nacht deswegen ziemlich verzweifelt war.
Ich möchte Sie bitten, alle Briefe und Telegramme zu öffnen und nach Ihrer Entscheidung zu handeln, falls eine Nachricht kommen sollte. Kann ich mich auf Sie verlassen?«
»Ja, aber ganz bestimmt!«
»Leider werden Sie keine Möglichkeit haben, mir zu telegraphieren, denn ich kann jetzt noch kaum sagen, wo ich überhaupt hingelange. Es kann irgendwo sein. Wenn ich jedoch ein bißchen Glück habe, brauche ich nicht so sehr weit zu gehen. Irgendwie werde ich schon etwas herausfinden und bringe eine Neuigkeit mit heim, ob's nun gut oder schlecht ist.«
Zur Frühstückszeit hatte ich noch nichts von ihm gehört. Beim Aufschlagen des >Standard< fand ich jedoch etwas Neues über unseren Fall.»Was die Tragödie in Upper Norwood angeht«, bemerkte das Blatt,
»haben wir Grund zu der Annahme, daß der Fall doch noch verwickelter und rätselhafter ist, als man ursprünglich dachte. Entlastendes Beweismaterial hat gezeigt, daß Mr. Thaddeus Sholto an dem
Verbrechen unmöglich beteiligt gewesen sein kann. Er sowie die Haushälterin, Mrs. Bernstone, wurden beide noch gestern abend wieder auf freien Fuß gesetzt. Man nimmt jedoch an, daß die Polizei bereits einen Hinweis auf die wahren Täter erhalten hat und daß dem durch Mr. Athelney Jones von Scotland Yard mit seiner wohlbekannten Energie und Umsicht nachgegangen wird. Mit weiteren Arresten kann jeden Augenblick gerechnet werden.«
Das ist ja soweit ganz befriedigend, dachte ich. Freund Sholto ist jedenfalls in Sicherheit. Ich möchte aber doch gerne wissen, was es mit den neuen Hinweisen auf sich hat, obwohl es mir eher die stereotype Form zu sein scheint, mit der die Polizei verbrämt, daß sie einen Schnitzer gemacht hat.
Ich wollte schon die Zeitung weglegen, doch in dem Moment fiel mein Auge auf eine Anzeige in der Seufzerspalte:
»VERMISST. Mordecai Smith, Bootvermieter, und sein Sohn Jim verließen letzten Dienstag um etwa
drei Uhr morgens Smiths Anlegestelle mit der Dampfbarkasse >Aurora<, schwarz mit zwei roten Streifen, Schornstein schwarz mit einem weißen Band. Eine Summe von fünf Pfund wird demjenigen gezahlt, der Mrs. Smith, bei Smiths Anlegestelle, oder per Adresse 221B, Baker Street, Auskunft über den
Aufenthaltsort des besagten Mordecai Smith und der Barkasse >Aurora< geben kann«
Das war eindeutig Holmes' Werk. Die Baker-Street-Adresse genügte, um das zu beweisen. Die Abfassung erschien mir äußerst geschickt, weil sie von den Flüchtigen gelesen werden konnte, ohne daß sie darin mehr sahen als die natürliche Sorge einer Frau um ihren vermißten Ehemann.
Es war ein langer Tag. Jedesmal, wenn an der Tür geklopft
wurde oder jemand schnellen Schrittes auf der Straße vorbeiging, bildete ich mir ein, daß es entweder Holmes sei, der zurückkam, oder eine Antwort auf diese Anzeige. Ich versuchte zu lesen, aber meine Gedanken wanderten wieder hin zu diesem merkwürdigen Abenteuer, auf das wir uns eingelassen hatten, und zu dem schlecht zueinander passenden bösen Paar, das wir verfolgten. Könnte in meines Freundes Beweisführung, so fragte ich mich, ein radikaler Fehler stecken? Könnte er nicht einer großen
Selbsttäuschung erlegen sein? War es nicht möglich, daß sein spekulativer Geist diese wilde Theorie auf falschen Voraussetzungen aufgebaut hatte? Ich hatte bei ihm noch nie erlebt, daß er im Unrecht war, und doch konnte auch der schärfste Denker sich gelegentlich irren. Er würde wahrscheinlich gerade durch seine äußerst
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