Sherlock Holmes - Im Zeichen der Vier
verfeinerte Logik einem Irrtum anheimfallen, dachte ich. Seine Vorliebe für eine
scharfsinnige und bizarre Erklärung, wenn eine einfache und alltägliche zum Greifen nahe lag, kam mir in den Sinn. Doch kannte ich selbst das Beweismaterial und hatte die Gründe für seine Folgerungen
vernommen. Wenn ich die lange merkwürdige Indizienkette noch einmal betrachtete, viele von ihnen sicherlich trivial, aber doch alle in die gleiche Richtung tendierend, konnte ich mir nicht verhehlen, daß, selbst wenn Holmes Theorie nicht zutreffend wäre, die korrekte Theorie ebenso außergewöhnlich und schockierend sein mußte.
Um drei Uhr nachmittags wurde laut an der Haustür geschellt, dann vernahm man eine gebieterische Stimme in der Diele, und zu meinem Erstaunen wurde niemand geringerer als Mr. Athelney Jones zu mir heraufgeführt. Er glich allerdings keineswegs mehr dem brüsken Meisterdetektiv, der den Fall so zuversichtlich in Upper Norwood übernommen hatte. Er sah niedergeschlagen aus und wirkte, als ob er sich entschuldigen wollte.
»Guten Tag, Sir, guten Tag«, sagte er. »Mr. Sherlock Holmes ist ausgegangen, wie man mir sagte.«
»Ja, und ich kann nicht einmal sagen, wann er zurücksein wird. Aber wenn Sie warten wollen, nehmen Sie Platz und versuchen Sie einmal eine von diesen Zigarren.«
»Ich habe nichts dagegen, danke«, sagte er und wischte sich mit einem roten Taschentuch sein Gesicht ab.
»Und ein Whisky mit Soda?«
»Gern, aber nur ein halbes Glas. Es ist zu warm für diese Jahreszeit, und ich hab 'ne ganze Menge Unannehmlichkeiten und Ärger gehabt. Sie kennen meine Theorie über diesen Norwood-Fall?«
»Ich kann mich erinnern, daß Sie uns Ihre Auffassung dargelegt haben.«
»Nun, ich war genötigt, sie neu zu überdenken. Ich hatte Mr. Sholto schon in meinem Netz, Sir, und das Netz zog sich immer fester um ihn zusammen, als er mir plötzlich durch ein Loch in der Mitte entwischte.
Fang! Weg war er. Er war imstande, ein Alibi beizubringen, an dem nicht zu rütteln war. Von dem Augenblick an, da er seinen Bruder verlassen hatte, hat's immer den einen oder anderen gegeben, der ihn gesehen hat. So konnte er es also nicht gewesen sein, der über Dächer und durch Dachfenster kletterte. Es ist ein sehr mysteriöser Fall, und meine berufliche Karriere steht auf dem Spiel. Über ein wenig Unterstützung würde ich mich freuen.«
»Wir brauchen alle manchmal Hilfe«, sagte ich.
»Ihr Freund, Mr. Sherlock Holmes, ist ein wundervoller Mann, Sir«, sagte er in vertraulichem Ton. »Er ist ein Mann, der nicht zu schlagen ist. Ich habe diesen jungen Mann schon in vielen Fällen erlebt, aber noch nie sah ich den Fall, in den er nicht Licht gebracht hätte. In seinen Methoden stelle ich eine gewisse Unregelmäßigkeit fest, und er ist vielleicht auch ein bißchen schnell bei der Hand mit Theorien, aber im Ganzen denke ich, würde er einen vielversprechenden Kriminalbeamten abgegeben haben. Ich habe heute morgen von ihm ein Telegramm erhalten, aus dem ich entnehme, daß er in dieser Sholto-Sache eine neue Spur hat. Hier ist seine Nachricht.«
Er nahm das Telegramm aus seiner Tasche und reichte es mir. Es war in Poplar um zwölf Uhr aufgegeben worden.
»Gehen Sie sofort zur Baker Street«, lautete es. »Wenn ich noch nicht zurück bin, warten Sie auf mich.
Ich bin der Sholto-Bande dicht auf den Fersen. Sie können heute abend mit uns kommen, wenn Sie beim Endspiel mit dabei sein wollen.«
»Das klingt gut. Offenbar hat er die Fährte wiedergefunden«, sagte ich.
»Ah, dann ist auch bei ihm etwas schief gelaufen«, rief Jones mit sichtlicher Befriedigung aus. »Selbst die Besten von uns werden manchmal abgeworfen. Natürlich kann sich das als falscher Alarm herausstellen, aber als ein Vertreter des Rechts ist es meine Pflicht, keine Möglichkeit ungenutzt vorübergehen zu lassen. Aber da ist jemand an der Tür. Vielleicht ist er das.«
Man hörte einen schweren Schritt die Treppe hinaufkommen, mit großem Schnaufen und Keuchen, wie von einem Mann, der schwer nach Atem ringen mußte. Ein- oder zweimal hielt er an, als ob das
Treppensteigen zu viel für ihn wäre, doch schließlich hatte er unsere Tür erreicht und trat ein. Seine Erscheinung paßte ganz gut zu den Geräuschen, die wir vernommen hatten. Es war ein älterer Mann, gekleidet wie ein Seemann mit einer groben, wollenen Jacke, die bis zum Hals zugeknöpft war. Sein Rücken war gebeugt, seine Knie zitterten und mühevoll rang er nach Atem wie ein
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