Sherlock Holmes in Dresden
Handgepäck zu sehen.
Holmes blieb sitzen. »Wir steigen noch nicht aus. Wir reisen weiter bis nach Mügeln bei Pirna. Das ist ein Dorf unweit von Dresden. Dort nehmen wir uns eine Droschke und fahren zurück.«
»Aus Sicherheitsgründen, nehme ich an.«
»Genau. Colonel Moran kann zwar nicht ahnen, welcher Fährte wir jetzt folgen, aber den Namen des
Königlich Sächsischen Anzeigers
hatte er uns gewiss nicht zufällig, sondern mit voller Absicht verraten, um uns nach Elbflorenz zu locken. Die Ankunft der Leipziger Züge wird er nun am Dresdener Hauptbahnhof ebenso überwachen wie vor zwei Tagen in der Messestadt die Berliner Verbindungen.«
»Was geschieht mit unserem Gepäck?«
»Darum soll sich der schwatzhafte Eisenbahnrevisor kümmern. Dann hat er endlich eine vernünftige Aufgabe.«
»Aber wir können nicht verstehen, was er sagt.«
»Das wird auch nicht notwendig sein. Die Hauptsache ist, er versteht uns.«
Kurz nachdem Holmes zurückkehrte und mir aufmunternd zunickte, erreichten wir den Dresdener Hauptbahnhof. Es war ein imposantes, neobarockes Gebäude mit drei ausladenden Rundbogenhallen und einer hohen Kuppel, das mich sehr an den Pariser
Gare du Nord
erinnerte. Als wir einliefen, sah ich, dass es rund zwanzig Bahnsteige gab. Offensichtlich herrschte hier ein reger Zugverkehr. Holmes und ich hielten uns halb hinter den Vorhängen versteckt, beobachteten jedoch aufmerksam das bunte Treiben rings um uns herum. Wir konnten nichts Verdächtiges bemerken. Das bedeutete jedoch nicht, dass keine Mordbuben mit schussbereiten Waffen auf uns warteten. So oder so, als das Signal zur Abfahrt ertönte, fiel mir ein Stein vom Herzen.
In Mügeln stieg außer uns beiden niemand aus. Das war ein gutes Zeichen. Es gab also weder Verfolger, noch wartete ein Empfangskomitee auf uns. Das ließ sich leicht feststellen, denn es existierten nur zwei Bahnsteige. Beide waren nicht überdacht und bar jeglichen Publikums. Ein Blechschild mit dem Richtungsanzeiger
Hbf.Drsdn
. bewegte sich quietschend im Wind. Achtlos verstreute Papierfetzen wurden in die Luft gehoben und flatterten davon.
Das Schaltergebäude war das ganze Gegenteil vom Dresdener Hauptbahnhof. Es besaß die ungefähre Kubatur einer einklassigen Dorfschule. An seiner Eingangstür hatte ein fantasievoller Architekt eine Art korinthischen Säulenvorbau mit einem Eichenblattkapitell und glattem Fries angeklebt,weil die Baulichkeit sonst wahrscheinlich mit einem Lokschuppen verwechselt worden wäre.
Der Bahnhofsvorplatz war menschenleer bis auf eine alte Zigeunerin, die Pfeife rauchend auf einer Bank saß. Es gab einen Halteplatz für Droschken. Aber dort stand keine einzige Kutsche.
Wir beschlossen zu warten. Nach fünf Minuten übernahm ich die Initiative und ging zurück zum Bahnhofsgebäude. Die Tür war verschlossen. Es brannte kein Licht. Ich klopfte. Niemand öffnete. Von dort war keine Hilfe zu erwarten.
Ich drehte mich um und musterte den Platz. Er war mit kleinen Steinen gepflastert und von halbhohen Ahornbäumen umstanden. Sie trugen nur noch wenige Blätter. Es begann dunkel zu werden. In den Häusern ringsum wurden die ersten Lichter angezündet. Ich öffnete den Mund und drehte den Kopf zur Seite, um besser hören zu können. Alles blieb still. Nirgendwo war das Rasseln von herannahenden Rädern zu vernehmen.
Schließlich fasste ich mir ein Herz und ging zu der Zigeunerin hinüber. Sie war schon alt und hatte graue Strähnen im schwarzen Haar. Sie trug eine Art bunt gemusterten, indischen Sari, dessen Rand mit Perlen und antiken Silbermünzen besetzt war. Trotz der Abendkühle war die Frau barfuß. Sie musterte mich eingehend und formte dabei kunstvolle Rauchringe. Ich kam mir wie ein orientierungsloser Trapper im Wilden Westen vor, der mitten in der Wüste auf eine Komantschin trifft.
Während ich noch nach den geeigneten Worten suchte, unterbrach die Zigeunerin endlich das längst peinlich wirkende Schweigen. »Es wurde auch langsam Zeit, mein Herr. Viel länger hätte ich nicht mehr gewartet.«
»Gewartet worauf?«
»Darauf, dass Sie mich endlich um Hilfe bitten. Ich will Ihnen gerne beispringen, aber nur unter einer Bedingung.«
»Und die wäre?«
»Zuerst lassen Sie mich Ihnen aus der Hand lesen. Heute gibt es einen Sondertarif. Es kostet Sie nur eine Silbermark. Der anschließende Beistand ist gratis. Es schickt sich nämlich nicht, aus der Not anderer Leute ein Geschäft zu machen.«
»Hier haben Sie eine Mark. Das Handlesen
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