Sherlock Holmes in Dresden
vor allen störenden fremden Lauten geschützt, sanken wir ermattet in Morpheus’ Arme. Ich vernahm lediglich das rhythmische Pochen meines Blutes im Ohr. So schlief ich nahezu ungestört durch bis zum nächsten Morgen.
Als wir uns um acht Uhr in der Frühe von unseren Lagerstätten erhoben, schienen wir bereits die letzten Gäste zu sein, denn im gesamten Haus herrschte gespenstische Stille. Nur der Portier machte Lärm. Er saß nach wie vor hinter seinem Schalter. Aber er verrichtete keine sinnvolle Tätigkeit, sondern schnarchte mit großer Inbrunst. Wir weckten ihn nicht auf. Es gab keinen Grund dazu. Wir mussten uns weder aus dem Gästebuch austragen lassen noch einen Zimmerschlüssel abgeben.
An einem Zeitungskiosk gegenüber vom Fremdenhof kaufte Holmes die neueste Ausgabe des
Königlich Sächsischen Anzeigers
sowie zwei Stadtpläne. Den einen gab er mir, den anderen steckte er in die eigene Tasche. Bei einem Zuckerbäcker holten wir uns Buttersemmeln und Krapfen zum Frühstück. Die leichte Mahlzeit nahmen wir in Gottes freier Natur auf einer Parkbank ein.
Mir war schläfrig zumute. Ich fühlte mich erschöpft. Die Nacht war doch anstrengender gewesen, als ich gedacht hatte. Mein Freund war schon wieder ganz bei der Sache. Er blätterte die Zeitung durch. Anschließend holte er seine Lupe hervor und studierte aufmerksam die Karte.
Ich hing unterdessen meinen Gedanken nach. Eine Vergnügungsreise auf dem Kontinent hatte ich mir anders vorgestellt. Doch der schlimmste Teil lag noch vor mir. Inzwischen war mir nämlich völlig entfallen, woher Holmes die Überzeugung nehmen konnte, dass mein geplanter Auftritt als Butler ungefährlich sein würde. Auch wenn sich Colonel Moran nicht in der Villa aufhalten sollte, würde James Moriarty sofort den Braten riechen, wenn er seinen neuen Kammerdiener zu Gesicht bekam. Schließlich leitete er inzwischen an seines Bruders statt ein Verbrechersyndikat und war außerdem nicht mit dem Klammersack gepudert worden. Wenn ich Glück hatte, würde er mich nicht sofort umbringen, sondern als Geisel nehmen. Von da aus war es nur ein winziger Schritt bis zum nächsten Gedankenspiel.
Die Fingerkuppen eines Menschen sind stark durchblutet und enthalten viele hundert Nervenzellen. Diese sogenannten Berührungsrezeptoren dienen dem Tastsinn. Aus diesem Grund sind sie aber auch äußerst schmerzempfindlich. Werkzeuge, die in zahlreichen Ausführungsformen zum Anfassen und Festhalten, zum Abtrennen und zum Biegenvon Arbeitsmaterialien dienen, werden als Zangen bezeichnet. Diese Zangen sind als zweiarmige Hebel konstruiert, die sich um einen Drehbolzen gegeneinanderpressen und das Werkstück mit dem flachen oder dem scharfen Zangenmaul erfassen.
Vor meinem geistigen Auge sah ich überdeutlich, wie Seamus Ray Morti mit einem satanischen Lächeln im Gesicht die Kuppe von meinem linken Zeigefinger mit dem Zangenmaul erfasste, sie langsam und genüsslich zerquetschte, bis sie schließlich nur noch aus einem blutigen Brei bestand. Nach einer Kunstpause trennte er dann diesen kläglichen Rest gekonnt vom zweiten Fingerglied ab.
Das war die Mutter aller Schmerzen. Sie wurde nur noch von einigen Foltermethoden des Mittelalters übertroffen wie zum Beispiel Pfählen bei lebendigem Leibe oder in siedendem Öl gesotten zu werden.
Holmes riss mich mit einem leichten Rippenstoß aus meinen Tag-Albträumen. »Du machst dir unnötige Sorgen, mein alter Freund. Wir werden das Kind schon schaukeln. Der frühe Vogel fängt den Wurm, denn der Feind sieht den Splitter nicht im eigenen Auge.«
»Unsinn, außerdem geht das Bibelzitat völlig anders.«
»Das ist doch einerlei. Du weißt, was ich meine. Wir trennen uns jetzt. Du unternimmst einen gemütlichen Stadtbummel. Am besten ist, du suchst ein Badehaus auf. Auch eine frische Rasur könnte dir nicht schaden. Um die Mittagszeit fährst du mit der Straßenbahn ins Zentrum. Du musst ein paarmal umsteigen. Aber das ist kein Problem. In der Karte sind die einzelnen Linien mit den betreffenden Nummern eingetragen. Wir treffen uns Punkt zwölf auf dem Altmarkt am Siegesdenkmal. Du wartest ganz genau fünf Minuten auf mich. Der nächste Treffpunkt ist zwei Stunden später aufdem Neumarkt am Lutherdenkmal. Falls ich dann immer noch nicht erscheinen sollte, verständigst du unseren Leipziger Freund. Anschließend gehst du zum Königlichen Polizeigebäude gleich um die Ecke vom Neumarkt und erzählst dort alles, was du weißt.«
»Aha, so viel dazu, dass
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