Sherlock Holmes in Dresden
können Sie sich sparen«, entgegnete ich. »Ich weiß nämlich schon, was Sie mir weissagen wollen: dass ich bald eine lange Reise antreten und eine blonde Frau treffen werde. In der Tat fahre ich in Kürze nach England, und meine liebe Gattin hat strohgelbes Haar.«
Die Zigeunerin kicherte wie die Hexe im Märchen. »Mit dem Deuten der Zukunft treibt man keine Scherze, mein Herr. Die unsichtbaren Mächte, die über uns wachen, könnten sonst verärgert sein und sich an Ihnen rächen.«
Nun bemerkte ich erst, dass die Alte eine unförmige Hakennase hatte, auf deren Spitze eine behaarte Warze wucherte. Ich hatte keine Lust auf weitere Diskussionen und hielt der Wahrsagerin meine linke Hand hin.
Sie umfasste sie sanft und fuhr mit ihrem rechten Zeigefinger die Linien auf und ab. Ein grauer Schleier überzog ihre Augen, und sie sagte sehr ernst: »Der Herr ist in großer Gefahr. Ein böser Mensch trachtet nach Ihrem Leben. Suchen Sie nach dem Hirsch. Er wird Sie retten.«
Die Sitzung war zu Ende. Die Zigeunerin erhob sich, strich ihre Kleider glatt und verstaute die Tabakspfeife unter dem Überwurf des Sari. Im Gehen meinte sie noch beiläufig: »Es gibt hier nur eine einzige Droschke. Sie ist vor einer Stunde losgefahren und wird nicht vor Mitternacht zurück sein. Gehen Sie zurück auf den Bahnsteig. Nehmen Sie den Zug in einer Viertelstunde. Er wird Sie bis nach Dresden-Strehlen bringen. Das ist eine Station vor dem Hauptbahnhof und nicht weit entfernt von der Borsbergstraße.«
Holmes lächelte amüsiert, als ich zu ihm zurückkehrte. »An deinem vergnügten Gesichtsausdruck kann ich erkennen, dass sich die Investition gelohnt hat. Die Droschke wird also demnächst hier eintreffen.«
»Nein, wir sollen den Zug nach Strehlen nehmen. Das ist ein Vorort von Dresden.«
»Auch gut. Der Weg ist das Ziel. Konntest du darüber hinaus noch wichtige Erkenntnisse über dein späteres Leben gewinnen?«
»Nein, die Alte hat nur den üblichen kryptischen Unsinn geschwafelt, der alles Mögliche bedeuten kann. Nur zum Schluss ist sie konkret geworden. Sie meinte, dass Strehlen in der Nähe der Bosbachstraße liegt.«
Holmes war plötzlich blass geworden. »Sagte sie Bosbachstraße oder Borsbergstraße?«
»So genau kann ich mich nicht mehr daran erinnern. Ich habe den Namen nie zuvor gehört. Weshalb?«
»Weil sich in der Borsbergstraße die Villa von Seamus Ray Morti befindet.«
Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter. Ich fuhr erschrocken zusammen und blickte mich nach der Zigeunerin um. Ich konnte sie nirgendwo entdecken. Außer uns beiden hielt sich niemand mehr auf dem Bahnhofsvorplatz von Mügeln auf. Dann hörten wir, wie in der Ferne eine Lokomotive tutete. Wir gingen zurück auf den Bahnsteig. Die Gleise begannen zu vibrieren.
[ 1 ] Das heutige Děčín.
[ 2 ] Sherlock-Holmes,
Das letzte Problem
[ 3 ] Wolfgang Schüler,
Sherlock Holmes in Leipzig
[ 4 ] Wolfgang Schüler,
Sherlock Holmes in Berlin
[ 5 ] franz.: Empfehlungsbrief
4. Kapitel
Trangestank und Traumgesichter
Schließlich verstaute der alte Mann seine Lupe.
Michael Chabon,
Das letzte Rätsel
I M F REMDENHOF
Aus den Aufzeichnungen von Dr. Watson
23.10.1913, Dresden
Die Nacht verbrachten wir im Dresdener Stadtteil Strehlen in einem heruntergekommenen Logierhaus am Gustav-Adolf-Platz. Es war eine üble Absteige von jener Sorte, wie sie überall auf der Welt in der Nähe von Bahnhöfen zu finden ist. Sie nannte sich
Fremdenhof zum Schwedenkönig
und schien vor dem Dreißigjährigen Krieg zum letzten Mal renoviert worden zu sein. Eine Empfangshalle gab es nicht, sondern nur einen schmalen Flur zum Treppenhaus. Der Hotelportier saß in Ermangelung einer Rezeption hinter einer vergitterten Luke. Er war unrasiert und ungekämmt. Außerdem stank er gegen den Wind wie ein zehn Wochen alter Käse. Der Wucherpreis, den der Mann für ein Zimmer verlangte, betrug zehn Goldmark die Nacht. Das war ungefähr das Fünffache von dem, was uns in London in einem Etablissement von ähnlicher Güte berechnet worden wäre.
Gleich am Eingang hing in Sichthöhe ein bedrucktes Pappschild an der Wand. Darauf stand:
Auszug aus dem Reichsgesetz vom 12. Oktober 1867
. Es hatte zum Inhalt, dass Fremde, die sich vorübergehend an dieser Stätte aufhielten, der strengen Meldepflicht bei der Ortspolizeibehörde unterlagen.Allerdings wurde diese wichtige Aufgabe unmittelbar auf die Reisenden delegiert, denn es gab noch nicht einmal ein Kontorbuch, in das wir uns eintragen
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