Sherlock Holmes und das Druidengrab
Holmes“ ansprach, während sie mich ihren „lieben Doktor“ nannte.
„Es war mir eine Ehre. Ich muss allerdings eingestehen, dass ich mich bei meinem Ablenkungsversuch, während ich Ihnen die Handschuhe zuwarf, verschätzt habe. Ich war davon ausgegangen, dass ich mich rechtzeitig zur Seite werfen könne, um der Kugel auszuweichen. Ich verdanke Ihnen mein Leben, Mylady.“
Er griff nach ihrer Hand und deutete einen Handkuss an. So charmant hatte ich Holmes nur selten erlebt. War auch er nicht immun gegen ihre Reize? Ich musterte ihn und erwartete, in seinem Blick ebenfalls die Trance zu entdecken, die mich kurz zuvor befallen hatte. Doch außer, dass seine Augen wissbegierig blitzten, konnte ich nichts Auffallendes an meinem Freund feststellen.
Die Fremde legte ihre Hand auf Holmes’ Brust. „Ich kann spüren, dass Sie etwas verloren haben, dass ein Teil in Ihrem Leben fehlt und Ihr brillanter Verstand dies nicht ersetzen kann. Sie selbst fühlen es auch, deshalb versuchen Sie, den Mangel durch Betäubung vergessen zu machen. Und wenn das nicht hilft, was es nicht tut, stürzen Sie sich auf Rätsel und verbeißen sich in kleinste Details, um sich abzulenken. Das macht Sie zu einem großen Detektiv, aber leider auch zu einem unglücklichen Menschen.“
Holmes erstarrte mitten in der Bewegung. Dann richtete er sich langsam auf, bis er stocksteif, wie ein Soldat beim Morgenappell dastand. „Ich würde es vorziehen, wenn Sie dies meine Sorge sein ließen. Erklären Sie mir lieber, wie Sie es geschafft haben, eine Tote zu uns zu schicken, obwohl man Sie Ihrer Fähigkeiten beraubt hatte.“
Die Frau lächelte. Holmes’ Reaktion schien sie nicht zu stören. „Meine Art ist sehr eng mit dem Leben verbunden, Leben in einer Form und Fülle, die Sie als Menschen nicht wahrnehmen. Zum Beispiel dieser Lehmboden hier. Ihnen mag er leblos erscheinen, aber für mich brodelt er geradezu von kleinen und kleinsten Lebewesen. Sie sind Teil des Lebens als Ganzem, wie auch Sie, meine Herren. Ich nenne es das Großleben, weil es in Ihrer Sprache hierfür kein Wort gibt. Normalerweise habe ich Macht über das Großleben, aber die war mir genommen. Doch eine Verbindung bestand weiterhin, wenn auch schwach. So konnte ich wenigstens um Hilfe bitten und wurde erhört.“
„Aber das Mädchen war tot.“ Ich konnte mir den Einwurf nicht verkneifen.
„Auch in einer Leiche gibt es Leben und nach ein paar Tagen nimmt es sogar noch zu.“
Mich schauderte. „Sie sprechen doch wohl nicht von ... Maden und Würmern?“
„Vergessen Sie nicht die Insekten und ihre Larven, Doktor“, warf Holmes ein.
„Genau, meine Herren. Was Sie Tod nennen, ist nur die Grundlage für eine andere Form von Leben.“
Die Frau, die mir mit jedem Satz fremder wurde, hielt inne, schien nach Worten zu suchen. „Als Männer mit wissenschaftlichen Interessen sind Sie gewohnt, zu analysieren und alles in seine Bestandteile zu zerlegen. Ist Ihnen dabei noch nie in den Sinn gekommen, dass Sie so der Gesamtheit dieser Einzelteile nicht wirklich gerecht werden? Mein Problem war nicht, die Leiche des Mädchens zu bewegen, sondern wie eine Kommunikation stattfinden sollte. Aber hier kam mir das Glück zu Hilfe. Die junge Frau hatte ein Heft mit einer Ihrer Geschichten dabei. So kam ich auf die Idee, mich an Sie zu wenden.“ Sie sprach nun Holmes direkt an. „Sherlock Holmes ist so bekannt, dass ich hoffen durfte, dass man das Mädchen aufgrund der Zeichnung zu Ihnen bringen würde. Und ich ging davon aus, dass Sie derjenige sind, der die Signale entziffern konnte.“
„Sie haben also auf meinen analysierenden Verstand gesetzt, auch auf die Gefahr hin, dass er die Gesamtheit zerstört?“
War da wirklich Bitterkeit in Holmes’ Stimme?
„Ach, nun seien Sie doch nicht gleich eingeschnappt, Mr Holmes. Es war ja erfolgreich, Sie waren erfolgreich.“ In ihrem Lächeln lag soviel Wärme, Holmes hätte aus Stein sein müssen, falls er ihr immer noch gegrollt hätte.
„Auch das von Ihnen verwendete Morsen geht auf Menschen zurück, die ihren analysierenden Verstand eingesetzt haben.“ Wie es schien, hatte sie Holmes wirklich tief getroffen.
„Ja, eine typische Idee der Menschen, am Ende alles auf zwei Zeichen zurückzuführen. Der Morsecode ist nur der Anfang einer Entwicklung, mit der sich mein Volk nur schwer anfreunden kann. Das Leben besteht nicht aus zerhackten, diskreten Teilchen, sondern ist ein fließendes, allumfassendes Ganzes.“ Sie
Weitere Kostenlose Bücher