Sherlock Holmes und das Phantom der Oper
eine einfache Tonleiter in Angst und Schrecken zu versetzen. Jetzt wurde mir auch klar, welchen Sinn der Wandschirm hatte, der meinen lautstarken Gesprächspartner vor mir verbarg: Er sollte die Bewerber nicht nur einschüchtern – obwohl er zweifellos auch die Wirkung hatte –, sondern vielmehr sicherstellen, daß jeder Bewerber nur nach seinen musikalischen Fähigkeiten beurteilt wurde. Mein Prüfer würde keine Möglichkeit haben, irgend etwas über mich zu erfahren, außer den Klängen, die ich meinem Instrument entlockte.
Dieser Gedanke hatte die erfreuliche Wirkung, mich zu beruhigen, und ich spielte ihm die Tonleiter. Als ich zum Ende kam, herrschte längere Zeit Schweigen, und die Gesichter am Tisch starrten den Wandschirm an.
»Noch einmal«, befahl die Stimme schließlich. Ich wiederholte mein Spiel und bildete mir ein, diesmal ein leises und irgendwie unmelodisches Summen zu hören.
»Und jetzt den Mendelssohn.« Also stürzte ich mich in das Scherzo, und das Summen, nach wie vor falsch, wurde lauter. Die Troika schien sich zu entspannen.
»Den Massenet.«
Ich spielte die ›Meditation‹, und noch bevor ich fertig war, tauchte eine hochaufragende Gestalt aus ihrem, Versteck auf. Es handelte sich um einen Mann mit kräftiger Gesichtsfarbe und einem großen Kopf, den wilde, krause und an den Schläfen langsam ergrauende Locken krönten. Die Lippen des Mannes waren auffallend dick, und die untere hing deutlich herab, als strecke ihr Besitzer sie beständig hervor. Er kam zu mir herüber und lächelte mich aus kurzsichtigen, dunklen Augen an, während die andern ehrfürchtig wie bei einer Parade dastanden.
»Sie sind kein Franzose«, stellte er fest, während er mir die Hand schüttelte.
» Non, maître. «
»Das habe ich mir gedacht. Die Franzosen bringen keine Geiger hervor.«
»Ich bin Norweger«, erzählte ich ihm. »Meine Name ist Henrik Sigerson.«
Daraufhin bedachten mich die unter buschigen Brauen verborgenen Augen mit einem eingehenden Blick; dann schüttelte der Mann mit einem barschen Lachen den Kopf. »Darauf wäre ich nicht gekommen«, war alles, was er sagte. »Ich bin der Dirigent der Pariser Opéra, Maître Gaston Leroux.«
» Bonjour, Maître. «
Wieder neigte er seinen großen Kopf. »Ich bin verantwortlich für alles, was hier geschieht. Mir entgeht auch nicht die kleinste Einzelheit. Und ich habe hier das Kommando über alles und jeden.«
Es lag etwas in seiner Haltung, als er das sagte, das das Trio schweigender, schwarzgekleideter Gestalten in diese Bemerkung einzuschließen schien. Welchen Sinn seine Worte auch gehabt haben mochten, die drei zogen es vor, nicht mit ihm darüber zu streiten.
»Sie spielen gut«, räumte er ein, und auch dies schien hauptsächlich der Erhellung jener drei Männer zu dienen.
»Vielen Dank. Maître , möchten Sie vielleicht etwas von meinen eigenen Kompositionen hören?« *
»Ganz bestimmt nicht.« Der Gedanke schien ihn in Erstaunen zu versetzen, aber schon bald hatte er sich wieder gefaßt. »Wann können Sie anfangen?«
»Wann immer Sie wollen.«
»Die Orchesterproben finden morgens um zehn Uhr statt. Die Vorstellungen beginnen abends um acht. Es wird erwartet, daß Sie im Theater sind, und zwar eingetragen …« – das letzte Wort betonte er mit scharfem Nachdruck – »mindestens eine halbe Stunde vor der Zeit. Habe ich mich in dieser Hinsicht klar ausgedrückt?«
»Ganz und gar.«
Er knurrte noch etwas Unverständliches, ging zur Tür und drehte sich dort noch einmal um.
»Wissen Sie, welches Schicksal Ihren Vorgänger ereilt hat?«
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung.«
»Hier wimmelt es von Gerüchten. Kümmern Sie sich nicht darum.«
Mit diesen Worten war er verschwunden.
KAPITEL ZWEI
Kleinigkeiten
Wenn ich nun auf die ganze seltsame Angelegenheit zurückblicke, frage ich mich, warum es so lange gedauert hat, bis mir klar wurde, daß da etwas nicht stimmte. Zum Teil, glaube ich sagen zu können, lag es daran, daß meine Fähigkeiten und Begabungen wie der Rest von mir Urlaub machten. Meine Augen und Ohren waren von den neuen Eindrücken so überwältigt (insbesondere jetzt, da ich alles von der Bühne aus verfolgen durfte), daß ich sie nur widerwillig zu einer formalen Analyse zwang. Statt dessen zog ich es vor, mich meinen neuen Erfahrungen hinzugeben, dahinzugleiten auf dem Strom träumerischer Eindrücke, die so gar nicht mit meinem professionellen modus operandi übereinstimmten wollten.
Außerdem muß
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