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Sherlock Holmes und das Phantom der Oper

Sherlock Holmes und das Phantom der Oper

Titel: Sherlock Holmes und das Phantom der Oper Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicholas Meyer
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ich zugeben, daß ich mich in dieser Stadt meiner gewohnten Hilfsmittel beraubt fand. Um herauszufinden, daß etwas ungewöhnlich ist, kann es sehr nützlich sein zu wissen, was gewöhnlich ist. Frankreich, Paris, die Fremdheit der Sprache, das gewaltige Opernhaus selbst und seine vielen Schächte und Gänge – all das trug zu dem verwirrenden, wenn auch nicht unangenehmen Gefühl bei, das meine Sinne einlullte.
    Und doch waren die Anzeichen die ganze Zeit über da.
    Entschlossen, unbedingt á l’heure zu sein, war ich am nächsten Morgen schon vor den von Leroux geforderten dreißig Minuten im Opernhaus und verlief mich natürlich prompt in dem labyrinthartigen Unterbau des Theaters, als ich versuchte, den Orchestergraben zu finden. Der Wachposten am Künstlereingang, der beinahe zahnlose Koloß, von dem ich mittlerweile wußte, daß er Jérôme hieß, hatte mich mit einer schroffen Geste zu einer eisernen Wendeltreppe am anderen Ende der Eingangshalle geschickt.
    Diese Stufen führten nun sowohl hinunter als auch hinauf. Da ich annahm, daß sich mein Ziel weiter unten befinden mußte, fand ich mich schon bald in einem endlosen Netz von Bühnen und weiteren Treppen, von sich windenden Korridoren und kleinen Fluren wieder. Ich kam vorbei an riesigen Kulissenstützen und gigantischen Bühnenbildern, und gelegentlich konnte ich einen Blick auf unheimliche schwarze Tiefen werfen, die mich eine gähnende Leere eher ahnen als sehen ließen. Viel später, als mir lieb war, erkannte ich, daß ich in die falsche Richtung gelaufen war, woraufhin ich versuchte, meine Schritte wieder zurückzuverfolgen.
    Leider erwies sich das als weit schwieriger, als ich gedacht hätte. Die verschiedenen Ebenen, Flure, Durchgänge und unterschiedlichen Beleuchtungen führten dazu, daß ich mich hoffnungslos im Kreis bewegte. Unvorstellbar, aber ich hatte die Orientierung verloren.
    Irgendwo glaubte ich das Echo eines Lachens zu hören, eines Lachens über meine Not. An einem Kreuzungspunkt traf ich auf einen älteren Mann von unsicherer Haltung, der mich aus meiner wachsenden Verwirrung errettete. Der Mann trug eine halbleere Weinflasche bei sich, und sein geröteter Gesichtsausdruck legte die Vermutung nahe, daß er dem Inhalt der Flasche bereits reichlich zugesprochen hatte, und das ohne den üblichen Umweg über ein Glas.
    »Wer zum Teufel sind Sie?« fragte er ohne jedes Zeremoniell.
    »Ich suche den Graben«, sagte ich und unterdrückte meine Erleichterung darüber, endlich auf ein lebendiges Wesen gestoßen zu sein.
    »Den Graben, wie?« Er lachte unfreundlich. »Gehen sie nur weiter in diese Richtung, dann werden Sie den Graben schon finden.«
    »Ich meine den Orch–«
    »Ich weiß, was Sie meinten, Dummkopf. Folgen Sie mir.« Daraufhin stürzte er rücksichtslos an mir vorbei auf eine schmale Plattform zu und bedeutete mir mit einer Bewegung der Flasche, ihm zu folgen. Er bewegte sich mit einer Geschwindigkeit, die seine völlige Vertrautheit mit der Umgebung bewies, und nach etwa fünf Minuten waren wir wieder an der Wendeltreppe angelangt, von der aus ich meine Expedition begonnen hatte.
    »Drei Stockwerke hoch und dann links.«
    »Vielen Dank. Ich hatte angenommen, der –«
    »Nehmen Sie besser gar nichts an in diesem Haus, sonst wird man nie mehr von Ihnen hören«, riet er mir und nahm einen Zug aus der Flasche. »Sie sind neu hier?«
    »Heute ist meine erste Probe.«
    Diese Feststellung quittierte er mit einem unverständlichen Brummen.
    »Nehmen Sie nichts an«, wiederholte er. »Wissen Sie, wie viele Kellergewölbe dieses Haus hat?« Bevor ich noch antworten konnte, fuhr er fort: » Fünf. «
    »Fünf?« Ich konnte meine Überraschung darüber nicht verhehlen.
    »Genau, fünf. Dieses Haus ist ebenso tief wie hoch. Da unten gibt es sogar einen See«, fügte er mit einem Schluckauf hinzu.
    Diese letzte Information tat ich als eine vom Alkohol inspirierte Spinnerei ab und dankte dem Mann noch einmal, eifrig darauf bedacht, ja nicht zu spät zu kommen. Während ich weiterlief, kam es mir in den Sinn, daß es mit der Moral in diesem Haus nicht zum besten bestellt war, wenn man an den verängstigten Geiger, an Jérôme, den Türhüter, oder den Trunkenbold dachte, der mir soeben den Weg gewiesen hatte.
    Später fand ich heraus, daß mein in die Jahre gekommener Retter ein ›Türschließer‹ war, von denen die Opéra insgesamt zehn ihr eigen nannte. Eine menschenfreundliche Direktion behielt diese Pensionäre zu einer weniger

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