Sherlock Holmes und das Phantom der Oper
überließ meine arme Freundin einem hysterischen Anfall. Das war alles, was ich wußte, als ich zu ihr ging, um sie zu trösten.«
»Und anschließend hat Buquet sich das Leben genommen?«
»So scheint es.«
»Wie meinen Sie das?«
»Nachdem man die Leiche entdeckt hat –«
»Wer hat sie entdeckt? Bitte seien Sie so präzise wie möglich, wenn es um Einzelheiten geht.«
»Die Leiche wurde von zwei anderen Bühnenarbeitern gefunden. Ihre Namen weiß ich nicht. Sie stimmten ein großes Geschrei an – ich konnte es ganz deutlich während des ›Blumenliedes‹ hören – und daraufhin liefen noch einige andere Leute einschließlich Debienne und Poligny, den Direktoren« – ich nickte, da mir diese beiden Männer bekannt waren – »zu dem unglücklichen Mann hin, um das Seil durchzuschneiden. Aber als sie an den Schauplatz der Tragödie zurückkehrte, was glauben Sie, haben sie da gefunden?«
»Glauben ist nicht meine starke Seite. Ich ziehe es vor, mich mit Fakten zu beschäftigen.«
Sie gestand mir diese Auffassung zu und nickte.
»Sie fanden die Leiche des armen Mannes bereits auf dem Boden – und das Seil, an dem er gehangen hatte, war verschwunden.«
»Verschwunden?«
»Das heißt, irgend jemand hatte es bereits durchschnitten. Die Hälfte des Seils hing immer noch an dem Balken, unter dem man seine Leiche entdeckt hatte. Jemand hatte es durchtrennt. Buquet lag auf dem Boden, aber der Rest des Seils, der Teil, der um seinen Hals geschlungen war, war nicht mehr da.«
»Vielleicht war es einer der anderen Bühnenarbeiter?«
»Das wurde auch zunächst angenommen. Aber da man diesen Bereich nach der grausigen Entdeckung versiegelt und einen Wachposten davor aufgestellt hatte, direkt an der einzigen Tür, die in das dritte Untergeschoß hinunterführt, schien diese Lösung unmöglich zu sein. Wie dem auch sei, alle leugneten, die Leiche auch nur angerührt zu haben.«
»Und doch …«
»Genau. Wo ist das Seil?« Sie erhob sich mit ängstlicher Miene und zog eine Runde durch das kleine Zimmer.
»Sie haben natürlich auch die Polizei gerufen, aber ich verfüge über eine gewisse Erfahrung mit der Obrigkeit und gebe mich da keinen großen Hoffnungen hin. Um genau zu sein: Ich habe Angst um meine Freundin. Sie scheint irgendwie im Mittelpunkt einer Intrige zu stehen, die um sie herumwirbelt, von der sie aber nichts weiß. Sie ist genausowenig verantwortlich für das, was geschieht, wie eine Kerze für die Motten, die sie umkreisen und dann im Sturzflug ins Feuer geraten, wo sie sich tödlich versengen.«
»Gibt es noch andere Motten?«
Sie zögerte, und ein winziges Stirnrunzeln trat auf ihre zarten Brauen über dem Nasenrücken.
»Es gibt einen Mann …« Sie hielt inne.
»Fahren Sie fort.« Sie sah mich zweifelnd an und ließ sich dann seufzend zurück in ihren Sessel fallen.
»Aber ich habe ihn nie gesehen.«
»Und?«
»Ihr Ankleideraum liegt direkt neben dem meinen, wie ich bereits sagte. Ich kann die beiden hören – keine einzelnen Worte, Sie verstehen schon, lediglich den monotonen Klang ihres Gesprächs. Ihre Stimme, dann seine, dann wieder ihre.« Mit einer vagen Bewegung ihrer Finger verstummte sie. »Manchmal habe ich den Eindruck, er ist ihr Gesangslehrer, denn ich höre die beiden singen.«
»Ach, wirklich?«
Sie nickte.
»Das ist ja seltsam.«
»Ganz meine Meinung.«
»Aber kaum etwas Ungewöhnliches in einem Opernhaus. Vielleicht ist er wirklich ihr Lehrer.«
»Meines Wissens nach hat sie keinen. Ich denke, sie hätte ihn mir gegenüber einmal erwähnt, wenn es ihn denn gäbe, denn genau das sind die Dinge, über die wir sprechen.«
»Sie sagen, Sie hören die beiden singen. Sprechen Sie von Duetten?«
»Manchmal. Bei anderen Gelegenheiten singt sie, und dann höre ich ihn leise sprechen, als mache er seine Kommentare zu ihrer Darbietung. Das Ganze kann natürlich ein falscher Eindruck von mir sein.«
Ich nickte.
»Haben Sie je Gelegenheit gehabt, Mademoiselle Daaé gegenüber diesen Gentleman zu erwähnten?«
»Das wäre sehr indiskret gewesen«, erwiderte sie vernünftig. »Sagen Sie mir«, fügte sie dann hinzu, setzte sich auf und lächelte, »haben Sie schon mal von dem Phantom der Oper gehört?«
»Es ist in aller Munde. Jeder Streich, jedes verpaßte Stichwort wird ihm in die Schuhe geschoben.«
»Manche Leute glauben, es gibt ihn wirklich.«
»Mademoiselle Daaé zum Beispiel?«
»Sie gibt es zwar nicht zu, aber sie tut es. Hinzu kommt, daß Madame
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