Sherlock Holmes und das Phantom der Oper
furchtbare Szene. Sie beschuldigte mich, gelauscht zu haben und mich in Dinge einzumischen, die mich nichts angingen.« Bei diesem Eingeständnis legte er auf beinahe kindliche Weise die Hand über den Mund. »Als ich am nächsten Morgen nach Hause kam, wartete dort bereits ein Brief auf mich – von ihr«, fügte er verbittert hinzu. »›Wenn Sie mich lieben‹, hieß es da, ›versuchen Sie nie wieder, mich zu sehen.‹ Gütiger Himmel!«
Wieder rannen ihm die Tränen übers Gesicht, und er fiel schluchzend über den Tisch, den Kopf in seinen Armen verborgen. Es schien ihm völlig gleichgültig, was für eine Figur er vor den anderen Gästen abgab. Ja, es sah tatsächlich so aus, als würde er in Kürze gar nichts mehr von dem bemerken, was um ihn herum vorging. Ich sah mich kurz um und begriff, daß ich ihn irgendwie nach Hause schaffen mußte. In der Uhrtasche seiner Weste fand ich eine seiner Visitenkarten, zahlte die Rechnung und bat einen Kellner, mir zu helfen, ihn in eine Droschke zu verfrachten. Der Mann kam meiner Bitte wortlos nach, denn er war offensichtlich an solche Szenen unter der Kundschaft des Cafés schon lange gewöhnt.
»Avenue Kléber, Nummer sechsunddreißig.«
Gedankenverloren saß ich während der kurzen Fahrt neben dem jungen Mann, dessen Kopf an meiner Schulter ruhte, während er begonnen hatte, seinen Rausch auszuschlafen. Das war wirklich eine schöne Bescherung, Watson. Der Kanarienvogel hatte, so schien es, einen Lehrer, einen unsichtbaren Gesangsmeister! Wie sollte ich jetzt vorgehen? Noch nie hatte ich mich solchen Hindernissen gegenübergesehen. All meine Instinkte verlangten von mir, noch am selben Abend ins Leichenschauhaus zu gehen, um die Leiche Buquets zu untersuchen, aber unter welchem Vorwand konnte ich dort erscheinen? Mir fehlte das ganze Drum und Dran meiner Verkleidungen, ich verfügte weder über Perücken noch über falsche Nasen oder gefälschte Dokumente, mit denen ich meine Identität hätte verändern und rechtfertigen können, ja, genau betrachtet, hatte ich nicht einmal einen eigenen Fall. Wer war mein Klient? Eine Frau, die ich noch nie gesehen hatte? Worin bestand mein Lohn? Hatte es überhaupt ein Verbrechen gegeben? Was das betraf, war ich zumindest einigermaßen sicher. Wie konnte man sich sonst das Verschwinden von Buquets Seil erklären? Wie sehr ich mir doch wünschte, Sie bei mir gehabt zu haben, alter Freund. Mag sein, daß Sie, wie ich bereits festgestellt habe, selbst keine Leuchte sind, Watson, aber Sie wirken erleuchtend. Ich hatte niemanden, vor dem ich meine Theorien darlegen konnte, und ich vermißte Ihre beruhigende Gegenwart zutiefst. Sie haben die Fähigkeit, mein Junge, immer die richtige Frage zu stellen, immer das Richtige zu sagen, und das in der richtigen Art. Nun hatte ich niemanden als mich selbst, mit dem ich über meine durcheinanderwirbelnden Gedanken hätte sprechen können.
Was das fehlende Seil betraf, schien eine Tatsache offensichtlich zu sein: Jemand hatte den unglücklichen Buquet heruntergeschnitten und war mit dem Seil verschwunden. Die einzige Frage war nur: warum? Welche Rolle konnte es für den armen Buquet gespielt haben, ob man ihn am Balken hängen ließ oder nicht?
Mein müdes Gehirn konnte nur eine einzige Antwort darauf ersinnen: Um die Welt davon in Kenntnis zu setzen, daß sein Tod kein Selbstmord war! Und wenn nicht Selbstmord, dann Mord.
Und warum sollte irgend jemand den Maschinenmeister ermorden? höre ich Sie sagen. Einfach deshalb, mein lieber Freund, weil er Christine Daaé liebte.
Die Droschke hielt vor einem imposanten Anwesen, und mit Hilfe des Fahrers gelang es mir, den kleinen Vicomte gegen eine der korinthischen Säulen vor dem Eingang zu stützen, während ich an der Klingelschnur zog. Einige Augenblicke vergingen, bevor ein Licht in der Halle auftauchte und in der Tür eine größere, stämmigere, ältere und schnurrbärtige Version des Vicomtes erschien.
Der Comte de Chagny starrte erst seinen Bruder und dann mich mit einem frostigen Gesichtsausdruck an.
»Es ist schon spät«, stellte er sehr richtig fest.
»Ihr Bruder hat ein wenig zu viel getrunken«, erwiderte ich. »Er steht unter einem schlimmen Schock«, fügte ich wie zu seiner Verteidigung hinzu.
Der Comte zögerte noch einen Augenblick länger und schien sich dann plötzlich zu entscheiden.
»Henri!« rief er, und ein ältliches Faktotum erschien auf der Bildfläche, das dem Vicomte ins Haus half, während der Comte selbst im
Weitere Kostenlose Bücher