Sherlock Holmes und das Phantom der Oper
Tür erschien. Sie trug einen hübschen, dunkelblauen Morgenrock mit weißen Blenden an Handgelenken und Hals. Aus der Nähe war Christine Daaé sogar noch hübscher, als ich es von meinem Sitz im Parkett während der Aufführung von Le Prophète hatte sehen können. Ihr Haar war von üppigem Blond, und im Augenblick trug sie es zu Zöpfen geflochten, die ein herzförmiges Gesicht mit klaren Brauen und weit auseinanderliegenden grauen Augen umrahmten, Augen, in denen der Übermut einer Achtzehnjährigen tanzte. Ihre Nase war klein, aber gerade, ihr Kinn stark, mit einer winzigen Spur Starrsinn, und ihre Haut überzog ein jugendliches Glühen, das nur eine Spur blasser war als ihre rosigen Lippen. Ich wage zu sagen, daß sie ziemlich genau die Art Frau war, die auch Ihnen, Watson, in unbeschwerteren Tagen gefallen hätte. Sie hatte, wie ich wußte, keinen Mangel an Bewunderern, und nachdem ich sie jetzt gesehen hatte, konnte ich durchaus verstehen, wie weit diese Männer um ihrer Schönheit willen gehen würden.
»Monsieur Sigerson, kommen Sie herein!«
Mein Erscheinen schien sie nicht weiter in Erstaunen zu versetzen. Als ich den Grund dafür erfragte, lächelte sie.
»Aber Irene hat mir doch alles von Ihnen erzählt! Sie hat mir gesagt, ich könne Ihnen vertrauen wie ihr selbst, und ich glaube alles, was sie sagt. Sie hatte eine Art Vorahnung, daß Sie mich vielleicht besuchen würden.« Innerlich seufzte ich auf vor Erleichterung und Dankbarkeit für die weitsichtige Miss Adler. Dies entging jedoch der jungen Frau, die sich bereits umgedreht hatte, um mich ihrer kranken Beschützerin vorzustellen, der fröhlichen Mutter Valerius, die unter einer schweren Bettdecke in einem Himmelbett lag und mich freudig begrüßte.
» Chérie , hole Monsieur Sigerson eine Tasse Tee.«
»Aber natürlich, grandmaman !« sagte das Mädchen und verließ, noch bevor ich irgendwelche Einwände erheben konnte, den Raum.
»Sie ist ein gutes Mädchen«, sagte die alte Frau mit einem Nicken in Richtung Tür.
»Wie haben Sie sie kennengelernt?« fragte ich.
»Ihr Vater, der arme Mann, hatte ein paar Zimmer von mir gemietet, bevor er geholt wurde.«
»Geholt?«
Sie hob ihre Augen himmelwärts.
»Ein guter Mann, ein echter Heiliger, und wie sehr er sein Kind geliebt hat!«
»Ich habe mir sagen lassen, daß er ihr einziger Musiklehrer war.«
»Sie können selbst hören, Monsieur, daß sie niemals einen anderen gebraucht hat.«
Nach einer Weile kam das Mädchen mit einem Tablett zurück, auf dem alle Utensilien versammelt waren, die wir zum Teetrinken brauchten.
»Nimm deinen Besucher mit ins Wohnzimmer, Kind«, wies Mutter Valerius sie an. »Es besteht keine Notwendigkeit, mich zu unterhalten.«
Christine protestierte, gab jedoch schließlich dem freundlichen, aber beharrlichen Drängen ihrer Beschützerin nach.
»Ja, Irene hat mir gesagt, daß Sie kommen würden«, wiederholte sie, während sie ein wenig von dem dunklen Gebräu in meine Tasse goß und sie mir reichte. »Wie aufmerksam von ihr, Sie zu meinem Schutz zu mir zu schicken, da sie doch selbst schon bald nach Amsterdam fahren muß. Ich dachte, Sie könnten vielleicht mein zweiter Engel werden«, fügte sie mit einem schelmischen Lächeln hinzu.
»Ihr zweiter? Betrachten Sie Mademoiselle Adler als ihren ersten?«
»O nein.« Sie konnte kaum ein Kichern unterdrücken. »Ich bewundere Mademoiselle Adler, und sie ist sicher sehr vieles, aber sie würde nie behaupten, ein Engel zu sein.«
Im Stillen pflichtete ich ihr bei.
»Wissen Sie irgend etwas über den Operngeist?« begann ich. Zu meiner Überraschung lachte sie herzlich. »Es gibt keinen Operngeist.«
»Nein? Aber –«
» Das ist doch mein erster Engel!«
Sie hätte mich kaum mehr erstaunen können, wenn sie plötzlich die Flucht ergriffen hätte, was sie in ihrer Aufregung auch beinahe tat.
»Der Geist ist kein Geist, sondern ein Engel?«
»Ich werde es Ihnen erklären«, sagte sie einfach, aber mit einem so verzückten Gesichtsausdruck, daß ich mich plötzlich ein wenig unwohl fühlte. »Ich brenne darauf, es Ihnen zu erzählen. Als mein Vater mich im Singen unterwies, hat er mir oft von dem Engel der Musik erzählt.«
»Der Engel der Musik?«
»Mein Vater war ein überaus religiöser Mann, Monsieur, und er hat mich dazu erzogen, die Heiligen zu lieben! Wenn er mich singen hörte, sagte er, meine Stimme sei so wundervoll, daß ich vielleicht, wenn ich nur meine Studien weitertrieb und hart arbeitete,
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