Sherlock Holmes und das Phantom der Oper
eines Tages vom Engel der Musik besucht werden würde, dessen Inspiration meine Ausbildung vollenden würde. Wie schade, daß er nicht lange genug gelebt hat, um das mitzuerleben«, schloß sie mit einem Seufzer.
Unter dem Vorwand, ein wenig von meinem Tee zu trinken, sah ich mir das Mädchen genau an. In ihrem Gesicht lag keine Unze Falschheit, und in ihren klaren, grauen Augen keine Spur von Doppelspiel. Im Gegenteil, ich begann zu sehen, was Irene Adler damit gemeint hatte, als sie von der Möglichkeit sprach, Christine Daaé könne so einfach sein, daß es schon an Einfältigkeit grenze. Das Kruzifix an der Wand und die gelassene Demut in ihrem Gesicht machten deutlich, daß jede Art von Täuschung und Betrug ihr fernlagen.
»Und der Engel ist also tatsächlich zu Ihnen gekommen?«
Sie nickte eifrig und konnte es kaum erwarten, ihr Geheimnis mit jemandem zu teilen.
»Er ist in meinen Umkleideraum gekommen. Das war vor drei Monaten! Oh, er hat die wunderschönste Stimme, die man sich denken kann, und er ist ein hervorragender Lehrer!« fügte sie hinzu, als sei dies der endgültige Beweis für seine Identität.
»Er unterrichtet Sie?« Irene Adlers Eindruck hatte sich also doch als richtig erwiesen.
»Täglich. Er ist sehr streng, aber auch sehr freundlich. Wenn er mich unterrichtet, ist es so, als könne er in meinen Gedanken lesen, denn er weiß genau, was ich fühle und wovon ich träume! Und wenn ich nachher singe, ist es so, als sei meine Stimme, ja sogar meine Seele von einem anderen Wesen besessen.«
Ich erinnerte mich an Leroux’ Bemerkung über die Unausgeglichenheit von Christines Gesang und die allgemeine Übereinstimmung, daß seine Beobachtung zutraf. »Singt er auch selbst?«
»O Monsieur, er hat die allerschönste Stimme! Nur diese Stimme kann die unaussprechliche Sehnsucht beschreiben, die in jeder menschlichen Brust wohnt, die Sehnsucht nach Verständnis, nach Liebe. Und er ist außerdem auch Komponist«, fuhr sie fort und klatschte vor Begeisterung in die Hände.
»Komponist?«
»Er arbeitet täglich an seiner Oper und erzählt mir davon. Der Triumph des Don Juan soll sie heißen, und er hat mir versprochen, wenn sie fertig ist, wird er mich zu einer Aufführung mitnehmen!« Ihre Augen glitzerten bei dieser Aussicht.
Ich fand den Gedanken äußerst unerquicklich.
»Er komponiert auf der Orgel?«
»Woher wissen Sie das?«
»Reine Spekulation, das versichere ich Ihnen. Ich nehme an, der Engel hatte wenig Verwendung für Joseph Buquet«, sagte ich aufs Geratewohl.
Sie nickte und senkte den Kopf. »Aber er hat ihm nichts getan«, erklärte sie nachdrücklich. »Es war Raoul, der den armen Joseph aus meinem Ankleideraum hinauswarf. Er ist allerdings sehr eifersüchtig«, fuhr sie nachdenklich fort.
»Der Vicomte?«
»Mein Engel.«
»Ihretwegen?«
»Er will, daß ich mich aufspare.«
»Für ihn?«
»Für meine Musik«, korrigierte sie mich mit einem verblüfften Gesichtsausdruck. Ganz eindeutig hatte ihr noch niemand etwas von dem fehlenden Seil am Galgen erzählt.
»Welchen Eindruck hat Buquet während der Auseinandersetzung mit dem Vicomte auf Sie gemacht?« wollte ich wissen. Sie knabberte an einem Finger und konzentrierte sich.
»Er war aufgeregt.«
»Können Sie etwas präziser werden? Hatte er Angst? War er wütend?«
»Sehr wütend.«
»Als er Sie in Ihrem Ankleideraum verlassen hat, kam er Ihnen da nicht wie ein Mann vor, der die Absicht hatte, sich das Leben zu nehmen?«
Ich konnte sehen, daß dieser Gedanke ihr nicht gefiel.
»Es ging alles so schnell, Monsieur.«
Ich merkte, daß diese Richtung der Befragung eine Sackgasse war, und beschloß daher, eine andere Taktik einzuschlagen.
»Ich nehme an, daß der Geist auch für den armen Vicomte de Chagny keine besonders freundlichen Gefühle hegt.«
Daraufhin wurde sie sehr blaß, und ihre Hand flog unwillkürlich an ihre Kehle.
»Wenn Sie ein gottesfürchtiger Mensch sind, Monsieur, dann müssen Sie Raoul von mir fernhalten!«
»Warum?«
»Weil … ich habe Ihnen doch gesagt … mein Engel erwartet … er besteht darauf, daß ich meine Stimme für meine Kunst bewahre.«
»Sind Sie absolut sicher, daß das das einzige ist, von dem er wünscht, daß Sie es bewahren?«
Sie warf mir einen verständnislosen Blick zu, dem sogleich ein besorgtes Stirnrunzeln folgte.
»Ich darf ihn nicht verärgern«, sagte sie eindringlich, »sonst wird er mir meine Stimme wegnehmen!«
»Unsinn.«
»Und er könnte Raoul etwas
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