Sherlock Holmes und das Phantom der Oper
Gelegenheit zu nutzen, einer Unmenge von Bewunderern die Möglichkeit zu geben, die wohlgeformten Glieder aus der Nähe zu betrachten.
Die Menschenmenge hatte sich bis zur Unbeweglichkeit ineinander verkeilt und produzierte eine Farbenorgie, die gewiß auch Degas’ Interesse geweckt hätte, hätte er sie gesehen. Jetzt, da ich davon spreche, bin ich sicher, daß unter den Gästen mehr als nur ein Künstler gewesen sein muß, der, wenn er sich nach ein oder zwei Tagen noch daran erinnern konnte, zweifellos versuchen würde, die Szene wiederzugeben. Das laute Rufen und Lachen der Menschen übertönte die Musik einer kleinen Kapelle auf der Vordertreppe. Nur der Trompete und der Trommel gelang es, das Getöse auf Dauer zu durchdringen.
Die Hitze war entsetzlich, und obwohl das Foyer riesengroß war – es legte einem die Idee nahe, daß ein benebeltes Hirn Paddington Station mit einem griechischen Grabgewölbe gekreuzt und dann das Ergebnis mit Mosaiken aus Ravenna besprenkelt hatte – vermittelte einem die Menge menschlicher Leiber, die mit den verschiedensten Parfums getränkt waren, den Eindruck, man befände sich in einem türkischen Bad, das plötzlich Amok lief. Selbst jene, die die Weitsicht besessen hatten, mehr oder weniger nackt zu erscheinen, waren in Schweiß gebadet. Und doch konnte man sich kaum des Eindrucks verwehren, daß das ganze Gebäude für eben solche Ereignisse gedacht war.
Die Krönung der optischen Verwirrung wurde von zwei eigens für diese Gelegenheit engagierten Nymphen beigesteuert. Die beiden Frauen standen, in Togas gekleidet, über dem formlosen Mob auf einander gegenüberliegenden Balkonen und bestreuten methodisch alle und jeden mit Unmengen Konfetti, das sie aus großen, flachen Schalen nahmen, die an ihren Gürteln befestigt waren. Sie erledigten diese Pflicht, ohne die geringste Regung zu zeigen – bis auf eine geradezu teutonische Gründlichkeit, die in einen wahren Wirbelsturm aus roten, blauen, gelben, weißen, grünen und rosafarbenen Papierstückchen mündete, die auf das Publikum herabregneten und in offene Münder fielen, an kunstvollen Frisuren hängenblieben und an feuchten, nackten Schultern festklebten.
Wie versprochen hielt ich eine gewisse Dresdner Schäferin im Auge, die sich mit gelben Röcken und einem himmelblauen, mit roten Paspeln besetzten Leibchen herausgeputzt hatte. Sie bewegte sich schüchtern durch das Gedränge und bahnte sich ihren Weg mit Hilfe eines großen Hirtenstabes. Die kleine Schäferin kümmerte sich kaum um die Menschen links und rechts, sondern bewegte sich, abgesehen von einem gelegentlichen Ruck ihres Kopfes in die eine oder andere Richtung, wie in Trance. Sie ignorierte die koketten Bemerkungen und Floskeln, die hinter ihr hergerufen wurden, und reckte nur einmal ihr Kinn in die Höhe, nachdem man ihr einen offensichtlich zu kühnen Vorschlag gemacht hatte. Arme Christine! Was erwartete sie? Leider hatte sie nicht die geringste Ahnung, obwohl sie eindeutig das Gefühl hatte, daß das Schicksal in Gestalt des Phantoms ihr dicht auf den Fersen sein mußte.
Nach und nach wurde mir bewußt, daß ich nicht der einzige war, der sie verfolgte. Ein grober Pierrot mit weißem Gesicht und einer Clownsmaske, der auf seiner linken Wange eine sorgfältig gemalte schwarze Träne zeigte, kam der Schäferin gerade in diesem Augenblick immer näher. Konnte das der Mann sein, auf den ich wartete? Ich ging so schnell ich es wagte auf sie zu, hatte aber nicht mit der Dichte der Menge gerechnet, die mir wie eine Ziegelsteinmauer mein Fortkommen erschwerte.
Über die Köpfe der Menschen hinweg sah ich ihn zwanzig Schritt von mir entfernt ihren Arm nehmen und ihr etwas ins Ohr flüstern.
Sie zuckte bei dem Geräusch zurück, und er riß sie wieder in seine Arme, die sie fest umklammert hielten. Trotz all ihrer Versuche sich zu befreien, ließ er sie nicht los. Ich konnte sehen, wie sie verzweifelt versuchte, sich aus der unwillkommenen Gefangenschaft herauszuwinden; ihr Mund unter der Maske verzog sich vor Anstrengung.
»Christine!« rief ich, aber meine Stimme, wenn man sie denn überhaupt in dem Gewirr der vielen anderen Stimmen vernehmen konnte, spielte für die beiden keine Rolle. Er zog sie weiter von mir weg, und schon nach kurzer Zeit waren sie verschwunden, aufgesogen von der Menge.
Ich verfluchte mich dafür, daß ich eine so große Entfernung zwischen uns zugelassen hatte, machte einen Satz nach vorn und drängte die Menschen, die mir im
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