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Sherlock Holmes und das Phantom der Oper

Sherlock Holmes und das Phantom der Oper

Titel: Sherlock Holmes und das Phantom der Oper Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicholas Meyer
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ohne Abweichung oder Zögern weiter wie ein Zug, der auf seinen Schienen lief und einem unwandelbaren Zeitplan gehorchte.
    Als nächstes hob sich der Vorhang vor dem größten Erfolg unserer augenblicklichen Saison, den Eisläufern auf echtem Eis aus dem dritten Akt von Le Prophète . Für dieses Stück warfen Arbeiter, die in der Obermaschinerie des Theaters saßen, Schneeflocken auf das corps de ballet . Die Wirkung war ein Triumph der Illusion, und das Publikum saß wie bezaubert da, da viele von den Zuschauern das Stück – oder auch nur etwas Vergleichbares – vorher noch nicht gesehen hatten.
    Nun wandte Leroux sich dem Publikum zu.
    » Mesdames et messieurs. « Sein mir nur allzu vertrautes Bellen hatte keine Probleme, bis in die letzten Winkel des Theaters zu dringen, bis hin zu den Rängen der Götter. »Mademoiselle Christine Daaé.«
    Der Vorhang hob sich vor einer leeren Bühne. Mademoiselle Daaé, immer noch als Schäferin verkleidet, wenn auch ohne Maske, stand ganz allein da, mit einem kunstvoll über ihre Schulter geschlungenen Schal und einem Korb am Arm. Sie war also immer noch frei! Jetzt könnte ich sie noch retten!
    »Sigerson, setzen Sie sich hin!« zischte Leroux und klopfte mit seinem Taktstock wie immer auf sein Pult, bevor er den Einsatz gab.
    Zuerst sang sie nur zögernd, und ich konnte die Angst in ihrer Stimme hören, aber schließlich schien die Musik selbst sie zu tragen, so wie ich es ihr prophezeit hatte. Sie hatte Micaelas Gebet aus dem dritten Akt von Carmen gewählt. Das Stück paßte ideal sowohl zu ihrer Stimme als auch zu ihrem Aussehen. Wie der Zufall es wollte, paßte es in gleichem Maße zu ihrem augenblicklichen Gemütszustand, denn es handelt sich um das Flehen einer verängstigten Frau, die allein ist und ganz der Gnade von Mächten ausgeliefert, auf die sie keinen Einfluß hat, einer Frau, die Gott um seinen barmherzigen Schutz bittet. Die ungewöhnliche Musik trug ihre Stimme empor, klar und rein wie die Bergluft, die sie angeblich umgab. Aus Leroux’ verzückter Miene schloß ich, daß sie auch ihn vollkommen begeisterte – und wenn sie diese Wirkung schon auf den Dirigenten hatte, brauchte ich gar nicht mehr darüber nachzudenken, was das Publikum von ihrer Vorführung hielt.
    Wieder folgte der Musik eine tiefe Stille. Aber diesmal führte ein vereinzeltes »Bravo!« den Beifall um den Bruchteil einer Sekunde an. Von meinem Aussichtspunkt aus konnte ich sehen, wie das gesamte Haus sich einmütig erhob. Christine Daaé hatte wieder einmal triumphiert, diesmal ohne jede Hilfe von außen, sondern lediglich durch ihre eigene Fähigkeit und ihren Geschmack.
    Sie trat an den Bühnenrand, wo auch wir im Orchestergraben sie sehen konnten, und wies mit einer anmutigen Geste ihres Arms auf den Beitrag von Leroux und dem Orchester hin. Wie benommen stand sie da und nahm mit einem tiefen Knicks den Beifall entgegen, wobei sie ihre Schultern leicht hochzog, als sie von allen Richtungen mit Blumen beworfen wurde und überall Rufe laut wurden: »Zugabe!«
    Und dann, ohne jegliche Vorankündigung oder Warnung, gingen die Lichter aus. Sie wurden nicht schwächer oder flackerten, sondern erstarben alle auf einmal, als hätte die Kalliope plötzlich ihren Dienst eingestellt. Das ganze Theater wurde in völlige Dunkelheit getaucht.
    Der Applaus, der noch vor kurzem kein Ende zu finden schien, schwand schnell dahin, und an seine Stelle traten nun laute Angstschreie. Die jüngsten schrecklichen Ereignisse an eben diesem Ort waren noch nicht vergessen, und überall machte sich Panik breit.
    In dem Augenblick, als die Lichter verlöschten, hatte ich mich bereits erhoben. In der allgemeinen Verwirrung hatte ich nur einen einzigen Schrei gehört.
    So plötzlich, wie sie verloschen waren, entzündeten sich die Lichter auch wieder. Obwohl es wie eine Ewigkeit erschienen war, konnte die Finsternis nicht länger als vier Sekunden gedauert haben. Aber das war genug gewesen.
    Christine Daaé war verschwunden. Alles, was von ihr übriggeblieben war, war der Korb, den sie am Arm getragen hatte. Das traurige Kulissenstück stand verlassen da, ganz allein auf der großen, weiten Bühne wie ein stummer Vorbote eines neuen Unglücks.
    Welche Unverschämtheit! Welche Kühnheit, Watson! Welch ein coup de théâtre! Er hatte vor dreitausend Menschen wunderbar gesungen, hatte es ihnen unmöglich gemacht, ihn festzunehmen oder ihn auch nur zu identifizieren, und dann, um das Ganze noch schlimmer zu

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