Sherlock Holmes und das Phantom der Oper
Kopf bestätigend zur Seite.
»Und nachher muß er mit mir kommen«, verkündete Mifroid allen, die es hören wollten.
»Vielen Dank«, konnte ich gerade noch sagen, bevor man mich an dem Dirigenten vorbeiführte.
»Ich danke Ihnen dafür, daß Sie Irene Adler gerettet haben, den schönsten Mezzosopran unseres Zeitalters!« rief er hinter mir her.
Nun wurde ich in die gegenüberliegende Richtung gedrängt und fand mich schon bald in der vertrauten Umgebung der vergangenen Wochen wieder, an jenem Ort, der schweigend Zeugnis von der glücklichen Zeit in meinem Leben ablegte, während der ich darangegangen war, mich neu zu finden. Nun würde er in Kürze Zeuge meiner schmählichen Niederlage bei diesem Unterfangen werden. Ich hatte den Orchestergraben als Detektiv auf Urlaub betreten und mich damit unterhalten, Karriere als Geiger zu machen; verlassen würde ich den Orchestergraben als Hochstapler unter Arrest und unter Mordverdacht.
Ich nehme an, Watson, daß die Dinge nicht wirklich so düster aussahen. Ich würde mir einen Anwalt nehmen können; ich würde von der anderen Seite des Kanals Zeugen kommen lassen, die über meinen Charakter und meine Identität aussagten – Sie zum Beispiel, mein lieber Freund –, Zeugen, die erstaunt sein würden zu erfahren, daß ich noch lebte. Das ganze absurde Gewebe würde früher oder später aufgelöst werden, Faden für Faden.
Aber in der Zwischenzeit, lange bevor das passieren würde, war die unglückliche Frau, der ich versprochen hatte, alles in meinen Kräften stehende für sie zu tun, ohne meinen Schutz, und das, nachdem ich sie überredet hatte, gegen jeden Instinkt ihres Wesens zu verstoßen und heute abend zu singen.
Der Unterhaltungsteil des Opernballs stand kurz vor dem Beginn. Die Festgäste, die ihren Durst mit vielen Gläsern Champagner gelöscht hatten und durch mehr als drei Stunden langes, unbewegliches Stehen müde geworden waren, waren nun dankbar für die Gelegenheit, sich hinzusetzen, selbst wenn das hieß, daß sie sich eine Stunde lang Auszüge aus der sogenannten ernsten Musik anhören mußten. Sie waren ein wenig betrunken, aber das beeinträchtigte Maître Leroux’ Perfektionssucht keineswegs. Betrunken oder nüchtern, er würde ihnen das Beste geben, was die Pariser Opéra zu bieten hatte. Das war, wie er gesagt hatte, seine raison d’être .
Der Krater, den der heruntergefallene Kronleuchter in das Parkett geschlagen hatte, war mehr oder weniger repariert – von Arbeitern, die rund um die Uhr geschuftet hatten. Es war eine vorübergehende Lösung, der nach der heutigen Vorstellung eine dauerhafte folgen sollte, aber für den Augenblick standen Stühle auf verdeckten Gerüsten, und der ganze Raum war mit Teppichen und goldener Farbe zu einem ansehnlichen Ergebnis gebracht worden.
Das Programm für die Gala war traditionell eine Überraschung. Wir, die wir auf der Bühne standen, kannten es natürlich im Vorhinein, aber für das Publikum gab es kein gedrucktes Programmheft. Statt dessen hatte Maître Leroux das Privileg, jeden Ohrenschmaus einzeln anzukünden – oder nicht anzukünden.
Es bestand bei dieser Gelegenheit kaum die Notwendigkeit, die Hauslichter zu dämpfen, da die Hauptquelle der Beleuchtung im Zuschauerraum nicht länger existierte. Statt dessen gab es Fackellichter, die jeweils von einem livrierten Bediensteten gehalten wurden und der Vorstellung eine unheimliche, irgendwie barbarische Atmosphäre verliehen, als befänden sich die Feiernden in einem gigantischen römischen Amphitheater oder in einer Bärenhöhle.
Leroux, der die berauschte Stimmung seines Publikums erfaßt hatte, machte keine Ankündigung für die erste Nummer, sondern gab lediglich den Einsatz, und der Vorhang hob sich vor dem ›Soldatenchor‹ aus Faust .
Das war genau die Art Musik, die das Publikum hören wollte. Es jubelte und stampfte mit den Füßen auf, und einige Leute fielen in die vertraute Melodie ein, summten oder pfiffen, da die meisten den Text nicht kannten.
Direkt im Anschluß daran und ohne Unterbrechung spielte das Orchester den ›Rakoczcy-Marsch‹ aus einem anderen Faust , und zwar dem von Berlioz. Das ungewöhnliche Stück brachte das Haus zu einem Siedepunkt des Hochgefühls, und das Jubeln und die Bravo-Rufe im Anschluß daran sagten dem Dirigenten, daß die Zuschauer nun ein Herz und eine Seele mit ihm waren. Er war schon ein Mordskerl, dieser Leroux.
Aber der maître hatte ihre Erwartungen vorhergesehen und stürzte sie
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