Sherlock Holmes und das Phantom der Oper
nun, als sich der Vorhang wieder hob, in Verwirrung.
Diesmal blickte man auf eine leere Bühne, über die sich ein Sternenhimmel spannte. Der große Plançon trotzte als Mephisto dem Himmel, und zwar im Prolog noch eines anderen Faustes , diesmal von Boito. »Ave, Signor!« begann er voller Hohn zu singen.
Von dem Augenblick an, in dem ich diese ersten Worte hörte, wußte ich jedoch – ebenso wie Leroux und viele andere –, daß dies nicht Plançon war. Es war einfach unvorstellbar, daß dieses hohe, alles überragende Heulen von dem vertrauten Baßbariton stammen konnte. Diese erstaunliche Macht, Watson, das schiere Entsetzen, das dieser trotzige Luzifer mit seinem Credo der Verdammnis weckte, wurde mit einer solchen Energie und einer solchen sardonischen Bosheit vorgetragen, wie ich sie diesseits der Hölle wohl nie wieder hören werde.
»Wer zum Teufel ist das?« rief Ponelle.
Leroux wischte sich den Schweiß von der Stirn, ein Eingeständnis seiner eigenen Überraschung, fuhr jedoch fort zu dirigieren. Er mochte sich vielleicht nicht für Geister interessieren, aber er erkannte die Stimme des Genies, wenn er sie vernahm.
Aus dem Keuchen des Publikums schloß ich, daß wir nicht allein mit unserer Reaktion waren. Bela, der an meiner linken Seite saß, machte den Eindruck, als würden ihm gleich die Augen aus dem Kopf fallen. Ich brauchte nicht zu sehen, wer da sang, um zu wissen, daß dies niemand anders als der Gesangsmeister selbst war – der Geist, Nobodys Orpheus, der Engel der Musik, das Phantom – all seine Titel waren nun in einem riesigen Triumph zu einem verschmolzen. Wie gern hätte ich doch gleich die Jagd aufgenommen, noch in diesem Augenblick, aber das stand außer Frage. Ich spielte unter den wachsamen Augen zweier Herren von der Präfektur, die nicht einmal den Versuch unternahmen, die Handlung auf der Bühne zu verfolgen. Sie kannten ihre Pflichten und gehorchten so getreu wie zwei Doggen. Vielleicht waren sie auch taub.
Am Ende der Arie war das Haus in totales Schweigen gehüllt. Mephisto verbeugte sich, ohne seinen Totenschädel abzunehmen, griff nach seinem Umhang, den er nonchalant über eine seiner riesigen Schultern warf, schlenderte frech von der Bühne und schied mit einer großartigen Erhabenheit, die jedem Applaus trotzte.
Was war aus Plançon geworden?
Und wo um alles in der Welt, war Christine? Hatte sie das Phantom singen hören? Oder war sie die große Vordertreppe hinaufgeflohen, sobald die Erscheinung auf der Bühne aufgetaucht war?
Oder hatte sie dazu gar keine Chance gehabt? Hatte das Ungeheuer sie schon vorher entführt, noch bevor es auf die Bühne ging? Schreckliche Ahnungen bemächtigten sich meiner wie die eisigen Finger eines Schraubstocks. Es gibt eine bestimmte Art von Angst, Watson, die sich auf ihr Opfer stürzt wie ein aufkommender Frost, der die Glieder von Kopf bis Fuß betäubt und erstarren läßt, so daß es schon zu einer wahren Herkulesarbeit wird, auch nur einen Fuß vor den anderen zu setzen. Trotz meiner festen Entschlossenheit war dies genau die Art von Angst, die sich wie ein Kokon um mich herumlegte, während ich rein mechanisch vor mich hingeigte.
»Es tut mir leid«, flüsterte Ponelle während eines neuerlichen gewaltigen Applauses.
»Es ist nicht Ihre Schuld, mein lieber Freund. Sie haben getan, was Sie für das Beste hielten«, erwiderte ich automatisch.
»Ich konnte mir Ihre Geschichte einfach nicht erklären, verstehen Sie?« beharrte er. »Ich wußte, daß Sie schon vor dem Mord an Buquet hier angefangen hatten – und dann dieser ganze Unsinn auf dem Père Lachaise.«
»Ich verstehe vollkommen.« Und wahrhaftig, wie hätte ich ihn auch nicht verstehen sollen? Stünde ich an Ponelles Stelle, was hätte ich von jemandem gehalten, der mir eine so dürftige Geschichte auftischte? Für Debienne und Poligny, die Ponelle ganz zu Recht als Idioten bezeichnet hatte, war die Geschichte gut genug gewesen, aber Ponelle selbst war kein Narr, und ich hatte einen schlimmen Fehler gemacht, ihn für einen solchen zu halten.
Ich bemerkte, daß die Fackeln langsam herunterbrannten. Soviel zum Thema Improvisation. Es war nur ein Glück, daß sie nicht das ganze Gebäude in Brand gesetzt hatten. Miss Adler hatte jedenfalls eindeutig recht gehabt, als sie den Grundsatz zitierte, die Show müsse weitergehen. Selbst jetzt, in der Verwirrung nach Plançons Verschwinden und seinem unerklärlichen, wenn auch sensationellen Ersatz, ging das Programm
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