Sherlock Holmes und das Phantom der Oper
machen, hatte er direkt vor ihren Nasen – ganz zu schweigen vor den Nasen eines ganzen Kontingents der Polizei – Christine entführt! Ich konnte nicht umhin, ihn dafür zu bewundern, auch wenn ich gleichzeitig meine verwünschte Unfähigkeit im Angesicht dieses gesichtslosen Genies verfluchte.
Aber ich wußte, daß ich nie wieder eine solche Chance bekommen würde. Die Jagd hatte begonnen * , und wenn ich nicht augenblicklich reagierte, würde meine Beute für immer verschwunden sein – und das Phantom würde Christine Daaé mit sich nehmen.
Mir war klar, daß sie, anders als Persephone, nie wieder der Welt der Sterblichen zurückgegeben werden würde.
Die Angst, die meine Glieder hatte starr werden lassen, ließ nach, und ich stürmte durch die Tür des Orchestergrabens, wobei ich die völlig verblüfften Polizisten vor mir auseinanderfahren ließ. Ich hörte ihre erstaunten Rufe hinter mir, verlangsamte jedoch meinen Schritt keinen Augenblick.
Wieder einmal stürmte ich den Flur zu Christines Ankleideraum entlang, von dem ich nun wußte, daß er die Grenze war, nach der ich gesucht hatte, seit diese merkwürdige Angelegenheit begonnen hatte. Sobald ich in dem kleinen Raum angekommen war, schloß ich die Tür hinter mir ab und steckte den Schlüssel in die Tasche. Draußen hörte ich hämmernde Schritte und die erregten Stimmen meiner Verfolger.
Ich dachte an nichts anderes als an meine augenblickliche Aufgabe, konzentrierte meine Gedanken nur auf einen einzigen Gegenstand – ich mußte die verborgene Tür oder das Paneel finden, durch das der Geist und Pierrot wenige Augenblicke, bevor ich sie erreicht hatte, verschwunden waren. Ich hatte nur einen Wirbel herumfahrender Spiegel gesehen, aber dieser kurze Blick war genug, um mir die Suche zu erleichtern. Während ich meine Hände über die reflektierenden Wände bewegte, hier und dort drückte, mir der Schweiß in die Augen lief und ich vor Anstrengung stöhnte, hörte ich an der Tür des Ankleideraums einen Hagel hämmernder Schläge. Irgendwo auf den Spiegeln oder in deren Nähe lag der Hebel verborgen, der mir meinen Weg in die Domäne des Phantoms ermöglichen und alle Geheimnisse dieser verworrenen Angelegenheit offenbaren würde. Wenn die Tür dem Drängen meiner Verfolger nachgab, bevor ich den Mechanismus entdeckt hatte, war alles verloren für Christine Daaé.
Im letzten Augenblick wurden meine Bemühungen belohnt. Eine Ecke des mit Spiegeln besetzten Paneels gab meinen tastenden Berührungen nach, und ein leises Rumpeln verriet ein unsichtbares Gegengewicht auf der anderen Seite der Wand. Ohne Zeit für den Gedanken zu haben, wie ich zurückkehren würde, sprang ich durch die verborgene Öffnung, während das Paneel sich um seine Achse drehte und hinter mir zuschlug. Ich beugte mich vor, die Hände auf den Knien, holte wieder Atem und wurde mir gleichzeitig der Tatsache bewußt, daß die Tür zum Ankleideraum mittlerweile nachgegeben hatte, keine zehn Schritte entfernt von dem Platz, an dem ich mich jetzt befand. Dem hörbaren Splittern von Holz folgte ein überraschter Ausruf derjenigen, die sich so sicher gewesen waren, mich in diesem Zimmer zu finden. Es entstand ein verwirrtes Durcheinander von Stimmen, die versuchten, die verschlossene Tür mit meinem Verschwinden in Einklang zu bringen. Wie ich vorhergesehen hatte, war ein kluger Kopf klüger als der Rest und meinte, ich hätte die Tür wohl von außen verschlossen und sei dann geflohen. Auf diese Weise hätte ich mir einen guten Vorsprung verschafft. Diese Theorie fand schnell weitere Anhänger, und die Meute verzog sich, so daß ich frei war, mich umzusehen und meine Umgebung zu untersuchen.
Ich hatte tatsächlich gefunden, wonach ich gesucht hatte. Nicht der falsche, sondern der wirkliche Eingang zu Alices Kaninchenbau; ein Königreich innerhalb eines Königreichs, eine Art angrenzendes Universum, das neben allem anderen in den Untergeschossen der Opéra existierte. Die beiden Reiche berührten einander nicht, es sei denn, ihrem Schöpfer gefiel es. Christine Daaés Ankleideraum war der Übertritt zwischen den beiden Welten. Wahrscheinlich gab es noch andere, aber ich brauchte nur diesen einen : die bemerkenswerte Schöpfung des Phantoms, sein unerhörtes Netz von Pfaden und Türen, Rutschen, Leitern, Tunneln, Brücken, Gerüsten und Treppen lag endlich vor mir.
Ich hatte keinen Faden, den ich hätte aufwickeln können, nichts außer dem einen Instinkt, der mir sagte, daß ich
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