Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud
ihm bis zu einer Droschke, die vor dem Ausgang stand, und hier blieb er stehen und sah uns mit einem schmerzerfüllten, um Vergebung bittenden Blick an, der zugleich einen leisen Vorwurf enthielt, als seien wir verantwortlich für die Entwicklung der Dinge. Holmes jedoch zeigte sich davon ungerührt.
»Es scheint, als habe er eine Droschke genommen«, bemerkte er gelassen. »In Wien kehren die Bahnhofsdroschken gewöhnlich an ihren Stand zurück, wenn sie ihre Kunden abgeladen haben. Lassen Sie uns sehen, ob Toby Interesse an einer der Kutschen zeigt.«
Das war aber nicht der Fall. Holmes ließ sich auf einer Bank in der Nähe unseres Gepäcks gleich neben dem Haupteingang nieder und dachte nach.
»Mir schweben verschiedene Möglichkeiten vor, aber ich glaube, das einfachste ist für den Augenblick, hier zu bleiben und Toby jede Droschke begutachten zu lassen, die zum Stand zurückkehrt.« Er sah zu mir auf. »Haben Sie Hunger?«
»Ich habe im Zug gefrühstückt, während Sie schliefen«, antwortete ich.
»Nun, ich glaube, eine Tasse Tee würde mir guttun.« Er stand auf und gab mir Tobys Leine. »Sollte das Glück uns hold sein – ich bin am Bahnhofsbuffet.«
Er ging, und ich kehrte zurück zum Droschkenstand, wo mein Benehmen die Fahrer verständlicherweise aufs äußerste befremdete. Toby und ich marschierten auf jede Droschke zu, sobald sie ihren Platz am Stand wieder einnahm, und ich ermunterte ihn jedesmal mit ausgestrecktem Arm, an dem betreffenden Wagen zu schnüffeln. Einige der Kutscher amüsierten sich über dieses Zeremoniell, aber ein fleischiger Herr mit einem Gesicht von der Farbe roter Rüben protestierte mit beträchtlichem Stimmaufwand, und ich konnte selbst mit meinem spärlichen Schuldeutsch den Grund seiner Besorgnis verstehen: Er befürchtete, Toby werde das Fahrzeug beschmutzen. Das war sogar tatsächlich einmal seine Absicht, aber es gelang mir noch, ihn im letzten Moment zurückzuhalten.
Eine halbe Stunde verrann auf diese Weise. Schon lange vorher war Holmes mit unserem Gepäck erschienen. Er stand da und beobachtete. Worte erübrigten sich, und nach einer Weile trat er seufzend auf uns zu.
»Das hat keinen Sinn, Watson«, sagte er. »Lassen Sie uns ein Hotel suchen, dann werde ich andere Arrangements treffen. Kopf hoch, alter Freund, ich sagte ja, es gäbe mehrere Möglichkeiten. Droschke!«
Wir gingen auf ein neu angekommenes Fahrzeug zu und waren eben dabei, einzusteigen, als Toby plötzlich ein freudiges Gebell anstimmte und ausdrucksvoll mit dem Schwanz wedelte. Holmes und ich blickten einander verblüfft an, um gleich darauf in Gelächter auszubrechen.
»Man muß nur warten können, Watson!« meinte er amüsiert, dann sprach er mit dem Fahrer. Holmes sprach besser Deutsch als ich, allerdings auch nicht besonders gut. Abgesehen von auswendig gelernten Goethe- und Schillerzitaten – zweifellos auch den Schultagen entstammend und für uns jetzt von geringem Nutzen –, war seine Kenntnis fremder Sprachen (mit Ausnahme des Französischen, das er fließend beherrschte) auf das Gebiet des Verbrechens beschränkt. Er konnte Worte wie ›Mord‹, ›Raub‹, ›Fälschung‹, ›Rache‹ und dergleichen in einer Vielzahl von Zungen vorbringen und kannte einige darauf bezogene Phrasen in jeder dieser Sprachen, sonst aber wenig. * So hatte er Schwierigkeiten, Moriarty zu beschreiben; der Kutscher war äußerst zuvorkommend, vor allem, da ihm ein gutes Trinkgeld angeboten wurde. Holmes hatte am Zeitungsstand im Bahnhof einen Sprachführer erworben, in dem er jetzt hastig blätterte, um seinen Wortschatz zu erweitern. Diese umständliche Methode war nicht sehr erfolgreich, und so war ich nicht böse darum, als einer der anderen Fahrer, die sich zuvor über mein Benehmen lustig gemacht hatten, von seinem Bock herunterrief, er könne »ein klein wenig Englisch«, und seine Hilfe anbot.
»Dem Himmel sei Dank«, murmelte mein Begleiter, ich finde in diesem Buch nichts anderes als: ›Das Wetter ist außerordentlich angenehm, meinen Sie nicht auch?‹«
Er steckte den Sprachführer in die Tasche und wendete sich unserem Dolmetscher zu.
»Sagen Sie ihm bitte« – Holmes sprach langsam und deutlich –, »daß wir zu derselben Adresse gefahren werden möchten wie ein anderer seiner Fahrgäste, den er vor wenigen Stunden befördert hat.« Dann gab er dem Dolmetscher eine detaillierte Beschreibung von Moriarty, die dem Fahrer von ›Tobys Droschke‹ in Deutsch wiederholt
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