Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud
werden.«
»Und warum das?«
»Weil sie wußten, daß sie Sie nur so dazu bringen konnten, mich aufzusuchen.«
»Und warum waren Sie auf diese Begegnung so erpicht?« Ich wußte, daß Holmes zutiefst verwirrt war, aber er verbarg es. Er war nicht der Mann, der sich gerne zweimal irrte.
Der Doktor konterte mit einer unerwarteten Gegenfrage. »Was für einen Grund können Sie selbst sich denken? Sehen Sie, ich habe über einige Ihrer Fälle gelesen und gerade eben einen persönlichen Eindruck von Ihren erstaunlichen Fähigkeiten gewonnen. Wer bin ich, und warum liegt Ihren Freunden so sehr an dieser Begegnung?«
Holmes musterte ihn kühl.
»Abgesehen von der Tatsache, daß Sie ein hochbegabter Arzt jüdischer Abstammung sind, aus Ungarn gebürtig – daß Sie zeitweise in Paris studiert haben, daß Sie durch irgendeine radikale Theorie bei den etablierten Angehörigen des medizinischen Berufsstandes in Ungnade gefallen sind, daß Sie daraufhin alle Verbindungen mit Krankenhäusern und Berufsverbänden abgebrochen und schließlich aufgehört haben zu praktizieren: Abgesehen davon, kann ich wenig Schlüsse ziehen. Sie sind verheiratet, sind ein Mann von Integrität, lieben Kartenspiele und Shakespeare, außerdem einen russischen Schriftsteller, dessen Namen ich nicht aussprechen kann. Das ist so ziemlich alles.«
Freud starrte ihn einen Moment lang zutiefst schockiert an. Dann begann er zu lächeln – und wieder war ich überrascht, denn es war das Lächeln eines Kindes, staunend und beglückt.
»Aber das ist ja wundervoll!« rief er aus.
»Nichts Besonderes«, war die Antwort. »Ich warte immer noch auf eine Erklärung für diesen unerhörten Trick – wenn es einer war. Dr. Watson wird Ihnen bestätigen, daß ich London nicht ohne unangenehme Folgen für längere Zeit verlasse. Das Bekanntwerden meiner Abwesenheit schafft eine unbekömmliche Munterkeit in Verbrecherkreisen.«
»Aber«, beharrte Freud mit fasziniertem Lächeln, »ich wüßte doch zu gerne, wie Sie meine biographischen Einzelheiten mit so beängstigender Präzision erraten konnten.«
»Ich rate nie«, korrigierte Holmes ihn höflich. »Es ist eine schlechte Angewohnheit, die sich nachteilig auf das logische Denkvermögen auswirkt.«
Er erhob sich, und obwohl er versuchte, es nicht zu zeigen, merkte ich doch, daß er allmählich auftaute. Holmes konnte, was seine Begabung anging, so eitel sein wie ein Mädchen, und die Bewunderung des Arztes war aufrichtig und ungekünstelt. Holmes begann, die Gefahren, von denen er sich eben noch umgeben geglaubt hatte, zu vergessen und sein eingebildetes letztes Stündchen in vollen Zügen zu genießen.
»Ein privates Arbeitszimmer ist der ideale Ort zur Beurteilung der menschlichen Charakterzüge«, fuhr er in dem vertrauten Ton eines Anatomieprofessors fort, der seiner Klasse die komplizierteren Teile eines Skeletts erläutert. »Daß das Zimmer Ihnen allein gehört, kann man den Staubmengen entnehmen. Nicht einmal das Mädchen darf hier herein, andernfalls würde sie es sicher nicht wagen, den Raum in einen solchen Zustand verfallen zu lassen.« Er wischte mit der Fingerspitze den Ruß von einem Bucheinband.
»Weiter«, bat Freud mit offensichtlichem Entzücken.
»Nun gut. Wenn ein Mann sich für Religion interessiert und eine umfangreiche Bibliothek besitzt, so versammelt er gewöhnlich alle Bücher zu diesem Thema an einer Stelle. Aber Ihre Ausgaben des Koran, der Bibel, des Mormonenbuches und anderer Werke dieser Art stehen getrennt – sogar auf der anderen Seite des Zimmers – von Ihrem schön gebundenen Talmud und Ihrer hebräischen Bibel. Sie sind also von mehr als wissenschaftlichem Interesse für Sie. Und was kann das anderes bedeuten, als daß Sie selbst jüdischen Glaubens sind? Der neunarmige Leuchter auf Ihrem Schreibtisch bestätigt diese Auslegung. Es ist eine Menora, nicht wahr?
Daß Sie in Frankreich studiert haben, entnehme ich der großen Zahl medizinischer Werke in französischer Sprache, unter anderem von einem Autor namens Charcot. Medizin ist kompliziert genug, niemand würde dieses Fach zu seinem Privatvergnügen in einer Fremdsprache studieren. Außerdem sieht man den Bänden deutlich an, daß Sie viele Stunden über ihnen verbracht haben. Und wo anders als in Frankreich würde ein deutschsprachiger Student medizinische Texte auf französisch lesen? Jetzt wird es etwas schwieriger, aber die Zahl der Eselsohren in Charcots Werken – dessen Name zeitgenössisch
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