Sherlock Holmes und die Moriarty-Lüge (German Edition)
anbelangte. Sie hatte von Kindertagen an eine gespaltene Zunge. Eine Operation, auf die ihre Mutter gedrängt hatte, hieß es. Sie konnte uns damit so erschrecken, dass wir davonliefen. Wir hatten Angst, dass ihr eventuell auch ein Giftzahn gewachsen war.«
»Sie muss sich irgendwann sehr verändert haben.«
»Eine unglückliche Liebe zu einem Mann außerhalb des Zirkus, einem jungen Arzt. Sie glaubte, diese Beziehung eröffne ihr den Zugang zu einer anderen Welt. Und scheiterte. Sie erwartete ein Kind und der Mann wollte sie nicht heiraten.«
»Und dann?«
»Ich sagte schon, dass das alles vor sehr langer Zeit stattfand. Ich kenne die Geschichte nur vom Hörensagen. Es sind traurige Ereignisse, die möglicherweise ganz anders abgelaufen sind.«
»Mich interessiert Ihre Version«, versicherte der Detektiv.
»Sie wollte sterben und ließ sich von einer ihrer Giftschlangen beißen.«
»Wie Kleopatra. Und sie war schwanger.«
Der Mann nickte. »Ihr Vater, der Magier, der mit ihr die Schlangen betreute, fand sie in Krämpfen und versuchte sie zu retten. Er hatte ein eigenes Gerät, mit dem er die Wunde an ihrer Hand aussaugte, dann ließ er sie einige Zeit bluten, desinfizierte sie mit einer Lösung aus hochprozentigem Alkohol und Heilkräutern und deckte die Umgebung der Wunde ab. Die Bissstelle selbst ließ er frei. Mit einem Band fixierte er die Hände auf dem Körper der Liegenden und kühlte ihre Stirn mit Wasser. Das schöne Mädchen war ohnmächtig. Ihr starker, jugendlicher Körper kämpfte ums Überleben. Drei Tage lang, an denen wir sie immer wieder aufsuchten und bei ihrem Anblick beinahe das Atmen vergaßen. Ihre Lippen waren bläulich angelaufen, ihre Haut wirkte schneeweiß. Als sie wieder zu sich kam, war sie eine andere. Sie war ernst und ruhig geworden. Und sie wollte nicht mehr mit den Schlangen auftreten. Sie und ihr Vater verließen den Zirkus.«
»Und das Kind, das sie erwartete?«
»Man sagt, sie und ihr Sohn seien durch das Schlangengift verändert worden, aber das sind Gerüchte, Erzählungen. Ich habe beide nie wieder gesehen.«
»Eine beeindruckende Geschichte«, stellte der Detektiv fest.
»Wir haben seitdem keine Schlangennummern mehr im Zirkus«, schloss George Sanger.
Auf der Rückreise nach London versuchte Sherlock Holmes, Klarheit in sein Denken zu bringen. Am Beginn der Bahnfahrt nahm er noch die grünende Landschaft und das Tintenblau der See wahr, dann versank er derart in seinen Überlegungen, dass er nichts mehr sah und hörte.
Holmes überlegte, welche Wirkung das Schlangengift auf den Körper der Frau und des ungeborenen Kindes gehabt haben könnte. Mögliche gesundheitliche Probleme sowie der Betrug von Sir William Wilde an dem jungen Mädchen waren der Grund für die besonders enge Beziehung der Mutter zu ihrem Sohn. Hatte sich Moriarty je davon befreien können? War das Gerücht, das die jungen Männer über die beiden verbreiteten, eine jugendliche Zuspitzung oder wörtlich zu nehmen? Wenn die Frau noch lebte, war sie mindestens so gefährlich wie der Sohn. Aber ihre Existenz war auch eine Chance, an den Napoleon des Verbrechens heranzukommen. Ein Napoleon, der unter dem Einfluss seiner Mutter stand, war leichter zu besiegen als ein selbstständiger Mann.
»Was machst du? Ich will wissen, was du planst«, sagte die zierliche alte Frau und beugte sich über den am Arbeitstisch sitzenden Sohn.
»Ich blicke in die Zukunft. Die Weichen sind gestellt. Jetzt heißt es abwarten«, antwortete dieser.
»Das heißt alles oder nichts«, protestierte Elena Moriarty. »Ich lasse mich nicht mit leeren Phrasen abspeisen. Du musst dranbleiben, mit aller Energie vorwärts stürmen. Es gibt kein Zurück, kein Anhalten. Abwarten wäre ein Fehler.«
»Was schlägst du vor?«
»Wenn du einen Gegner bei der Gurgel hast, musst du zudrücken, nicht abwarten. Das Leben duldet keinen Stillstand. Stillstand bedeutet Tod.«
»Auch das sind leere Worte. Was konkret soll ich tun?«
»So gefällst du mir, Jamie. So haben wir all die Jahre gekämpft und Siege errungen, und so wird es weitergehen.«
»Konkret.«
»Keine Halbheiten. Es gibt Probleme zu lösen.
Lady Wilde, deine Halbbrüder, Oscars Frau, seine Söhne. Sie wissen viel, und auch wenn sie kurzfristig schweigen, weil sie Angst haben, werden sie plaudern, sobald die Bedrohung nicht mehr spürbar ist.«
»Was könnten sie verraten?«
»Unsere Versuche, an die Queen heranzukommen«, antwortete die Mutter mit einem
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