Sherlock Holmes und die Theatermorde
grunzte. »Also, wo war ich stehengeblieben?«
»Sie waren dabei, uns das Buch zu zeigen, das McCarthy unter Aufwand seiner letzten Kräfte hervorsuchte«, erinnerte Holmes ihn mit ruhiger Stimme.
»Oh, ja.« Der kleine Mann ging, um den Band zu holen, dann drehte er sich um. »Einen Augenblick. Sagen Sie mal, woher wußten Sie, daß er nach einem Buch suchte, bevor er starb?«
»Aus was für einem anderen Grund würde er sich so heroisch bemüht haben, zu den Bücherregalen zu gelangen«, erwiderte Holmes geduldig. »Es ist ein Werk Shakespeares, nicht wahr? Mir scheint, daß einer der Bände fehlt.«
Ich ließ instinktiv einen Blick zu Shaw hinübergleiten, der diese Information mit einem verächtlichen Schnaufen zur Kenntnis nahm und begann, auf eigene Faust den Raum zu untersuchen.
»Tun Sie mir den Gefallen und zertrampeln Sie nicht die Indizien«, gebot Holmes in scharfem Ton und winkte ihn zu uns. »Können wir das Buch sehen?«
Lestrade nickte dem Wachgeister zu, der ein weiteres Objekt, wieder in ein Taschentuch gewickelt, zum Vorschein brachte und auf den Tisch legte. Vor uns lag Romeo und Julia , offensichtlich Teil der Oxford-Gesamtausgabe, die auf dem Bücherregal über der Leiche stand. Holmes nahm wieder das Vergrößerungsglas zur Hand und vollzog, die Lippen vor Konzentration gespitzt, eine sorgfältige Untersuchung des Buches.
»Mit Erlaubnis, Sir.« Es war wieder der Wachtmeister.
»Ja.«
»Es war aufgeschlagen, als wir es fanden.«
»Tatsächlich?« Holmes warf Lestrade, der verlegen von einem Fuß auf den anderen trat, einen durchdringenden Blick zu. »Und an welcher Stelle?«
»Das Buch war nicht in seinen Händen«, erwiderte der kleine Mann abwehrend. »Er ließ es fallen, als er starb.«
»Aber es war aufgeschlagen.«
»Ja.«
»Auf welcher Seite?«
»Irgendwo in der Mitte«, brummte Lestrade. »Es ist ein ganz gewöhnliches Buch«, fügte er verdrießlich hinzu. »Keine Geheimbotschaften im Rücken, sollte es das sein, woran Sie denken.«
»Ich denke überhaupt nicht«, erwiderte Holmes. »Ich beobachte. Sie haben das offenbar unterlassen.«
»Es war Seite zweiundvierzig«, ließ sich der Wachtmeister vernehmen. Holmes schenkte ihm einen interessierten Blick, dann begann er sorgfältig die blutbefleckten Seiten umzuwenden.
»Sie sind mit Eifer dabei«, stellte er fest, während er Blatt für Blatt studierte. »Wie lange sind Sie schon aus Leeds fort? Fünf Jahre?«
»Sechs, Sir. Nachdem mein Vater –«, der Wachtmeister hielt verwirrt inne und starrte den Detektiv überrascht an.
»Also, Holmes«, mischte sich sein Vorgesetzter ein, »wenn Sie den Burschen kennen, warum sagen Sie es dann nicht?«
»Es ist nichts Besonderes, auf seinen Geburtsort zu schließen, Lestrade. Sicherlich sind auch Ihnen nicht seine ausgeprägten As und seine ungewöhnliche Aussprache von Diphthongen entgangen. Ich würde Leeds, vielleicht auch Hull vermuten, aber er hat, wie er sagt, seit sechs Jahren in London gelebt und sich eine Spur des örtlichen Dialekts angeeignet. Sie leben jetzt in Stepney, nicht wahr, Wachtmeister?«
»Jawohl, Sir.« Die Augen des Wachtmeisters waren ehrfurchtsvoll aufgerissen. Shaw seinerseits war dem ganzen Gespräch mit einem Ausdruck größter Aufmerksamkeit gefolgt.
»Das ist ja wunderbar!« rief er. »Wollen Sie wirklich sagen, daß sie die Herkunft eines Mannes anhand seiner Sprache bestimmen können?«
»Wenn es Englisch ist, bis auf zwanzig Meilen genau. * Ich hätte erkannt, daß Sie aus Dublin stammen, auch wenn Sie versuchten, das zu kaschieren«, antwortete Holmes. »Ah, hier sind wir, Seite zweiundvierzig. Es ist der Schluß von Akt drei, erste Szene.«
»Der Zweikampf zwischen Tybalt und Mercutio«, ließ Shaw Lestrade wissen, der offensichtlich noch immer über Holmes’ linguistisches Bravourstück nachsann. Holmes blickte ihn über das Buch hinweg eindringlich an, woraufhin der Ire sich leicht verfärbte.
»Nun ja, natürlich habe ich es gelesen«, schnappte er. »Romantisches Gewäsch«, fügte er, an niemanden im besonderen gerichtet, hinzu.
»Ja, der Tod Mercutios – und Tybalts. Hm, ein sonderbarer Hinweis.«
»Sollte es einer sein«, beharrte Lestrade. »Das Buch war, wie ich schon sagte, nicht in seiner Hand, und die Seiten konnten in der Zwischenzeit auseinandergefallen sein.«
»Das konnten sie«, stimmte Holmes zu. »Aber da sich keine Botschaft zwischen den Seiten findet, müssen wir davon ausgehen, daß er uns mit dem Buch
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