Sherlock Holmes und die Theatermorde
Etwas in seinem majestätischen und gleichzeitig abwehrenden Blick erinnerte an Napoleon. Ich erhielt bald darauf den Eindruck, daß dies auch voll und ganz seine Absicht war.
»Mr. Richard D’Oyly Carte?« erkundigte sich Holmes, als wir nahe genug waren, um im Flüsterton gehört zu werden.
»Was wünschen Sie? Die Presse ist vor Premieren nicht zugelassen. Das ist eine Vorschrift im Savoy. Es ist eine Probe im Gange, und ich muß Sie bitten zu gehen.«
»Wir sind nicht von der Presse. Ich bin Sherlock Holmes, und dies ist mein Mitarbeiter Dr. Watson.«
»Sherlock Holmes!« Der Name hatte den gewünschten Effekt, und D’Oyly Cartes Miene verzog sich zu einem Lächeln. Er erhob sich halb von seinem Sessel und bot uns zwei Sitze neben sich an. »Setzen Sie sich, meine Herren, setzen Sie sich! Das ist eine Ehre fürs Savoy! Machen Sie es sich bitte bequem. Das Ensemble ist den ganzen Tag an der Arbeit gewesen und hat jetzt gerade ein Tief erreicht, aber Sie sind uns dennoch willkommen.«
Anscheinend glaubte er, wir hätten einer Laune folgend das Theater besucht, um einer Probe beizuwohnen. Für den Augenblick bestärkte Holmes ihn in dieser Meinung.
»Wie heißt das Stück?« erkundigte er sich höflich in gedämpftem Ton, während er sich in den Sessel neben dem Impresario gleiten ließ.
» Der Großherzog. «
Wir wandten unsere Aufmerksamkeit der Bühne zu, auf der ein hochgewachsener, militärisch wirkender Mann von Ende Fünfzig zu den Darstellern sprach. Ich sage, ›er sprach zu ihnen‹, aber es käme der Wahrheit näher zu sagen, daß er sie drillte. Das paßte auch vorzüglich zu seinem soldatischen Gebaren, das ihn zu einem Präzisionsfanatiker stempelte. Es war kein Bühnenbild vorhanden, was ein Verständnis der Handlung nicht gerade erleichterte. Gilbert – offensichtlich war er der militärische alte Knabe – wies einen langen, schlaksigen Schauspieler an, seinen Auftritt und seine ersten Worte zu wiederholen. Der Mann verschwand von der Bühne, um Sekunden später mit seinem Text wieder aufzutauchen, aber Gilbert unterbrach ihn mitten im Satz und verlangte erneut eine Wiederholung. Unser Gastgeber neben uns schrieb eilig Notizen in ein Buch auf seinen Knien. Der Schauspieler machte sich nach einigem Zögern wieder davon. Obwohl kein Wort fiel, ließ sich klar erkennen, daß alle erschöpft und am Rande eines Nervenzusammenbruchs waren. Carte blickte – den Stift in der Hand, das Gesicht finster verzogen – zur Bühne auf. Er klopfte sich nervös mit dem Stift auf die Zähne.
»Sie sind ausgelaugt«, verkündete er in einem Murmeln, das an niemanden im besonderen gerichtet war. Seinem Ton war nicht zu entnehmen, ob er die Darsteller oder die Verfasser des Stückes meinte.
Der Schauspieler wiederholte seinen Auftritt zum dritten Mal und stürzte sich in seine Rede, in der er etwas weiter gelangte, bevor der Autor ihn unterbrach und ihn aufforderte, noch einmal zu beginnen.
»Dies ist nicht nur ein freundschaftlicher Besuch.« Holmes neigte sich dem Impresario zu. »Soviel ich weiß, gehört dem Theater eine junge Dame namens Jessie Rutland an? Welche der Darstellerinnen auf der Bühne ist es?«
Das Benehmen des Managers durchlief eine rasche Wandlung. Der gehetzte, aber liebenswürdige Impresario wurde zu einem mißtrauischen Eigentümer mit unverbrüchlichen Besitzansprüchen.
»Warum wollen Sie das wissen?« fragte er. »Ist sie in irgendwelchen Schwierigkeiten?«
»Es sind nicht ihre Schwierigkeiten«, versicherte ihm Holmes, »aber sie muß einige Fragen beantworten.«
»Muß?«
»Entweder mir oder der Polizei, möglicherweise uns beiden.«
Carte sah ihn für einen Moment starr an, dann warf er sich in seinen Sessel zurück, als wünschte er, von ihm verschlungen zu werden.
»Das hat mir gerade noch gefehlt«, murmelte er, in finsteres Brüten versunken. »Ein Skandal. Es hat im Savoy nie auch nur den Hauch eines Skandals gegeben. Das Betragen der Angehörigen dieses Theaters ist über jeden Vorwurf erhaben. Darauf achtet Mr. Gilbert.«
»Mr. Grossmith nimmt Rauschgift, nicht wahr?«
Carte starrte ihn aus den Tiefen seines Sessels verwundert an.
»Wo haben Sie denn so etwas gehört?«
»Das spielt keine Rolle, es wird nicht weitergetragen werden. Können wir jetzt Miss Rutland sprechen?« beharrte Holmes.
»Sie ist in ihrer Garderobe«, erwiderte der andere mürrisch. »Sie fühlt sich nicht wohl – sagte etwas von Halsschmerzen.«
Auf der Bühne waren erhobene
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