Sherlock Holmes und die Theatermorde
Ich bin ganz sicher, daß sie keinen anderen Hinweis gab.«
»Aha!« Holmes schloß kurz die Augen und tippte die Fingerspitzen gegeneinander. »Und wieviel von dieser Geschichte haben Sie heute morgen der Polizei erzählt?«
Der Komponist errötete und senkte den Blick.
»Nicht ein Wort?« Holmes konnte eine Spur von Mißbilligung nicht unterdrücken. »Die Frau kann jetzt doch nicht mehr kompromittiert werden. Sie hat nichts mehr zu verlieren.«
»Aber ich, ich kann kompromittiert werden«, erwiderte Sullivan leise. »Wenn herauskommt, daß ich von einer Liaison im Savoy wußte, und Gilbert nichts davon sagte –« er seufzte. »Unsere Beziehung ist nie besonders herzlich gewesen, und in letzter Zeit hat sie mehr denn je gelitten. Er hat es nie überwunden, daß ich geadelt wurde, wissen Sie. Aber wir brauchen einander, Mr. Holmes!« Er stieß ein kurzes, freudloses Lachen aus.
»Die Ironie ist, daß wir ohne einander nicht funktionieren. Oh, ich weiß, es gibt The Lost Chord und The Golden Legend , aber alles in allem kann ich die unerquickliche Wahrheit nicht leugnen, daß Der Mikado und dergleichen meine Stärke sind. Er weiß das auch und ist sich darüber im klaren, daß es unsere Savoy-Opern sind, die uns unvergessen machen werden * .
Ich habe nicht mehr lange zu leben«, schloß er, »aber solange ich noch atme, kann ich es mir nicht erlauben, ihn weiter zu verärgern.«
»Ich verstehe, Sir Arthur, und bitte Sie, mir jede Andeutung eines moralischen Urteils zu verzeihen. Eine letzte Frage.«
Sullivan blickte auf.
»Kennen Sie Bram Stokers Frau?«
Die Frage überraschte den Komponisten, aber er faßte sich schnell und zuckte die Achseln.
»Seine Frau ist, soviel ich weiß, eng mit Gilbert befreundet. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.«
Holmes erhob sich. »Haben Sie Dank für die Zeit, die Sie uns geschenkt haben. Kommen Sie, Watson.«
»Ich verlasse mich auf Ihre Diskretion – soweit diese möglich ist«, murmelte Sullivan, während wir der Tür zustrebten.
»Diskretion gehört zu meinem Beruf. Übrigens –«, Holmes zögerte, die Hand auf der Türklinke. »Ich habe Ivanhoe gesehen.« *
Sullivan warf ihm über den Rand seines Pincenez einen Blick zu. »Oh?«
»Ich war sehr angetan.«
»Wirklich? Das ist mehr, als ich von mir behaupten kann.« Er starrte trübe auf die Tischplatte, während Holmes die Tür öffnete.
Draußen stand Bram Stoker.
»Haben Sie seine Stiefel gesehen?« raunte Holmes mir zu, nachdem wir an ihm vorbei waren.
KAPITEL ZEHN
Der Mann mit den braunen Augen
Sherlock Holmes ging auf Bram Stokers Stiefel und auf dessen Neigung, an Türen zu horchen, nicht näher ein und äußerte sich auch nicht zu Ellen Terrys Reaktion auf seine Frage nach Stokers Wohnung in Soho. Ja, er lehnte es beim Verlassen des Lyzeums ab, überhaupt eine Meinung von sich zu geben.
»Später, Watson«, sagte er, als wir vor dem Theater am Straßenrand standen. »Es ist alles nicht so einfach, wie ich zunächst vermutete.«
Ich wollte mich gerade erkundigen, was er damit meinte, als er mich am Ärmel packte.
»Ich muß den Nachmittag mit einigen Nachforschungen verbringen, Watson. Darf ich Sie bitten, eine Kleinigkeit für mich herauszufinden?«
»Was immer Sie wollen.«
»Ich möchte, daß Sie Bernard Shaw auftreiben und feststellen, was es gestern abend mit seinem exzentrischen Benehmen auf sich hatte.«
»Sie messen meiner Theorie also einige Bedeutung bei?«
»Mag sein«, antwortete er mit einem Lächeln. »Auf jeden Fall scheint es mir geraten, alle Fäden dieses verworrenen Knäuels in der Hand zu behalten. Es ist beinahe Mittagszeit, und ich glaube, Sie werden ihn im Café Royal finden. Ich weiß, daß er dort mit Vorliebe seine Mahlzeiten einnimmt. Viel Glück.« Er drückte meinen Arm und ging eilig davon.
»Wo sollen wir uns treffen?« rief ich ihm nach.
»Baker Street.«
Er verschwand um die Ecke, und ich vergeudete weiter keine Zeit, sondern winkte einer Droschke, um direkt ins Café Royal zu gelangen, eine verschneite Meile vom Lyzeum entfernt. In der Tat hatten alle Vorfälle, mit denen wir es gegenwärtig zu tun hatten, innerhalb einer einzigen Quadratmeile stattgefunden, ein Gedanke, der mich nachdenklich stimmte. Die Welt des Theaters schien abgegrenzter zu sein als irgendeine andere, deren Bekanntschaft ich bisher gemacht hatte. Alle Einwohner dieser Welt schienen einander zumindest flüchtig zu kennen; in der daraus entstehenden familiär-intimen Atmosphäre
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