Sherlock Holmes und die Theatermorde
Pincenez rutschte ihm von der Nase und schaukelte, nur Zentimeter vom Boden entfernt, heftig an dem schwarzen Band hin und her.
»Sie sind ernsthaft krank!« rief ich und eilte ihm zu Hilfe. Er konnte eine Weile nicht antworten, sondern lag, nach Luft schnappend wie ein Fisch auf dem Trockenen, im Sessel. Ich löste seine Krawatte und nahm ihm den Kragen ab. Dann erblickte ich die Küche, von der Ellen Terry gesprochen hatte, und stürzte hinein, um Wasser für ihn zu holen. Er trank es mit mühsamen Schlucken. »Ich danke Ihnen.«
»Sie sind zu krank, um dies Gespräch fortzuführen«, erklärte ich, was mir einen finsteren Blick von Sherlock Holmes am anderen Tischende eintrug.
Sir Arthur setzte sich langsam auf. Ein angespanntes Lächeln verzog sein Gesicht. »Krank? Ich sterbe. Diese Nierensteine sind eifrig am Werk und werden es bald beendet haben.« Er zuckte schwach die Achseln und setzte sein Pincenez wieder auf. »Wenn der Schmerz nachläßt, gehe ich nach Monte Carlo und entspanne mich; wenn er zurückkehrt, dann arbeite ich, um ihn zu vergessen. Ich bin in London und arbeite, ergo ist er zurück.« *
»Können Sie weitersprechen?« fragte Holmes zögernd.
»Ich kann und ich will, vorausgesetzt, daß Sie mich von der Relevanz Ihrer Fragen überzeugen.« Sullivan richtete sich in seinem Sessel auf und befestigte seinen Kragen mit nervösen, zarten Fingern.
»Finden Sie es nicht einen bemerkenswerten Zufall, daß beide Morde innerhalb von vierundzwanzig Stunden verübt wurden?«
»Inspector Lestrade schien nicht so zu denken. Er erwähnte die McCarthy-Affäre noch nicht einmal, als ich heute morgen mit ihm sprach.«
»Die Polizei hat ihre eigenen Methoden«, erklärte Holmes taktvoll. »Und ich habe die meinen. Ich kann Ihnen rundweg versichern, daß die beiden Todesfälle miteinander zu tun haben.«
»Wieso?«
»Sie wurden von derselben Hand verursacht.«
Sullivan lächelte schwach. »Ich habe Dr. Watsons Aufzeichnungen Ihrer Fälle mit lebhaftestem Interesse gelesen«, bekannte er, »und ich habe sie immer erfreulich stimulierend gefunden. Dennoch werden Sie mir vergeben, wenn ich in dieser Sache Ihr Wort nicht als beweiskräftig erachte.«
Holmes, dem klar wurde, daß Sullivan kein Schwachkopf war, seufzte. Er würde mehr Karten auf den Tisch legen müssen.
»War Ihnen bekannt, Sir Arthur, daß Jessie Rutland Jonathan McCarthys Geliebte war?« Der Komponist erbleichte, als erleide er eine erneute Attacke seiner tödlichen Krankheit.
»Das ist unmöglich!« erwiderte er hitzig. »Sie war nichts dergleichen.«
»Ich versichere Ihnen, sie war es.« Holmes lehnte sich mit glänzenden Augen vor.
»Unser Informant, dessen Namen ich für den Augenblick verschweigen muß, besteht darauf, daß sie es war. Seine Zuverlässigkeit in einigen anderen Details veranlaßt mich, ihm auch hier Vertrauen zu schenken, um so mehr, als es sich um den einzigen Anhaltspunkt für einen Zusammenhang zwischen den beiden Verbrechen handelt.«
»Was für Details?«
»Zum Beispiel behauptet er, daß ein führender Darsteller des Savoy Rauschgift nimmt, weil Mr. Gilbert ihn so nervös macht.«
»Das ist eine elende Lüge.« Aber er sprach ohne Überzeugung und verfiel in nachdenkliches Schweigen. Holmes musterte ihn einige Sekunden lang kühl, dann beugte er sich wieder nach vorne.
»Sie haben gerade die Vorstellung von Jonathan McCarthy als Jessie Rutlands Liebhaber mit leidenschaftlicher Überzeugung von sich gewiesen, und zwar nicht nur, weil Sie den Mann verabscheuten. Sie wußten es besser, nicht wahr?«
»Es scheint jetzt so gleichgültig.«
Sherlock Holmes’ Augen glänzten mehr denn je; sie strahlten wie zwei Leuchtfeuer.
»Ich gebe Ihnen mein Wort, daß es von äußerster Wichtigkeit ist. Jessie Rutland ist tot; wir können sie nicht ins Leben zurückrufen oder ihr irgendeinen Liebesdienst leisten, von einem ehrenvollen Begräbnis vielleicht abgesehen. Aber eines können wir tun, wir können ihren Mörder überführen.«
Jetzt war es an Sullivan, Holmes einer Musterung zu unterziehen, und das tat er – so schien es jedenfalls – für eine gute Minute. Ohne sich zu rühren, die Hand in die Seite gepreßt, starrte er ihn durch sein Pincenez an. »Nun gut. Was wollen Sie wissen?«
Der Detektiv war sichtlich erleichtern. »Sagen Sie mir etwas über Jack Point.«
»Wen?«
»Entschuldigen Sie, das ist der Name, den McCarthy in sein Notizbuch schrieb. Er scheint es sich zu eigen gemacht zu haben,
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