Sherlock Holmes und die Theatermorde
erscheint. Fangen wir mit Miss Rutland an. Wie haben Sie sie kennengelernt?«
Der Häftling lehnte sich gegen die Ziegelmauer neben der Tür und sprach in die Ecke hinein: »Sie kam in meinen Laden; sie wohnte in der Nähe. Ich verkaufe außer alten englischen Möbeln östliche Raritäten, und sie hatte Spaß daran, sich in ihrer Freizeit solche Dinge anzusehen. Ich beantwortete ihre Fragen über die Stücke, die ihr gefielen, und erläuterte ihr, soweit ich es konnte, ihre Herkunft. Allmählich begannen wir, uns über andere Dinge zu unterhalten. Sie war Waise, ich hatte vor kurzem meine Mutter verloren. Abgesehen von meinen Kunden und ihren Freunden im Theater kannten wir beide niemanden.« Er brach ab und schluckte mühsam. Sein Adamsapfel ragte zwischen den angespannten Muskeln seines dürren Halses hervor, als er sich umdrehte und den Detektiv durch die Zelle hinweg ansah. »Wir waren einsam, Mr. Holmes. Ist das ein Verbrechen?«
»Ganz gewiß nicht«, erwiderte mein Freund mit sanfter Stimme. »Fahren Sie fort.«
»Dann gingen wir gelegentlich miteinander spazieren. Nichts weiter, darauf gebe ich Ihnen mein Wort!« fügte er hastig hinzu. »Wir gingen einfach spazieren. Wir wanderten umher, abends, bevor es kühl wurde und sie zur Arbeit mußte. Und wir setzten unsere Gespräche fort.«
»Ich verstehe.«
»Wirklich?« Er stieß ein Lachen aus, das mehr wie ein Schluchzen klang. »Das ist erfreulich. Inspector Lestrade versteht es nicht. Er legt mein Verhalten etwas anders aus.«
»Kümmern Sie sich jetzt nicht um Inspector Lestrade. Fahren Sie mit Ihrer Erzählung fort.«
»Es gibt nichts weiter zu erzählen. Wohin wir auch gingen, man starrte uns an und flüsterte. Erst beachteten wir es nicht. Wir waren so einsam, und die Einsamkeit verlieh uns den Mut, uns gegen Konventionen aufzulehnen.«
»Und dann?«
Er seufzte, und seine Schultern bebten. »Und dann fing es an, uns aufzufallen. Es ängstigte uns. Wir versuchten eine Zeitlang, unsere Angst zu unterdrücken, wir empfanden sie zu stark, um sie einander mitzuteilen. Und dann –«, er zögerte, von seinen eigenen Erinnerungen verwirrt.
»Ja?«
»Sie traf einen anderen Mann.« Er sprach so leise, daß es schwierig war, ihn zu verstehen. »Einen Weißen. Es fiel ihr schwer, mir das zu sagen«, fuhr er fort, und die Tränen rollten ihm jetzt übers Gesicht, »aber wir empfanden mehr und mehr Unbehagen, wenn wir zusammen waren. Unsere Ängste nahmen zu. Unbedeutende Zwischenfälle – die im Vorbeigehen gehörte Bemerkung eines Straßenhändlers – erschreckten sie immer mehr, und sie begleitete mich nur widerstrebend, wenn ich kam, um sie abzuholen. Aber sie konnte sich immer noch nicht dazu überwinden, von ihren Befürchtungen oder von dem Mann, den sie kennengelernt hatte, zu sprechen. Ich glaube, sie wollte es vermeiden.« Er machte eine Pause. »Also sagte ich es ihr. Ich wies sie darauf hin, daß unsere häufigen Zusammenkünfte Gerede in der Nachbarschaft verursachten und daß es mir geraten schien, diesem Gerede ein Ende zu setzen, bevor es ihrem Ruf schaden oder ins Theater gelangen könnte. Sie versuchte, ihre Erleichterung zu verbergen, aber ich konnte sehen, daß ihr ein Stein vom Herzen fiel. Sie war ein guter Mensch, Mr. Holmes, gutherzig und großzügig, und es war nicht ihre Art, einen Freund im Stich zu lassen. Dann erzählte sie mir von dem Mann, den sie getroffen hatte. Dem weißen Mann«, wiederholte er in einem hilflosen Ton, daß es mir das Herz zerriß.
»Oh, nichts, als daß sie ihn kennen und lieben gelernt hatte. Die Vorschriften im Savoy sind in solchen Dingen ungeheuer streng, und sie mußte Diskretion bewahren. Ich glaube auch, daß sie mich nicht mit Einzelheiten quälen wollte. Darum blieben wir immer in unserer eigenen Gegend«, fügte er hinzu, »es hätte ihren Ruin bedeutet, wäre sie in meiner Begleitung gesehen worden.« Er blickte aus der knienden Stellung, in die er sich hatte sinken lassen, zu uns auf. »Das ist alles, was ich Ihnen sagen kann.«
»Was studieren Sie an der Universität?«
»Jura.«
»Aha!« Holmes ging zu ihm und schüttelte ihm die Hand. »Mr. Singh, ich bitte Sie, lassen Sie den Mut nicht sinken. Es sieht augenblicklich nicht gut für Sie aus, aber ich werde dafür sorgen, daß Sie nicht auf die Anklagebank kommen.«
Der Inder musterte ihn eine Weile mit forschendem Blick durch seine dicken Brillengläser. »Warum sollte es Sie kümmern, ob ich auf der Anklagebank bin oder nicht? Ich
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