Sherlock Holmes und die Theatermorde
Teppich. Auf dem Tisch, gerade außerhalb seiner Reichweite, standen eine Wasserkaraffe und ein Glas, die Shaw ihm zuschieben wollte.
»Zurück, Sie Narr!« keuchte er. »Verstehen Sie denn nicht?« Er ergriff mit großer Anstrengung das Glas und stürzte den Inhalt gierig hinunter; das Wasser gurgelte, für alle hörbar, durch seine aufgeblähten Gedärme.
»Vor fünf Jahren verließ ich die Armee und ließ mich in Bombay nieder, um am dortigen Krankenhaus für Tropenkrankheiten Forschung zu betreiben. Ich hatte inzwischen Edith Morstan geheiratet, die Nichte eines Hauptmanns in meinem Regiment, und wir bezogen ein Haus nicht weit von meiner Arbeitsstätte, wo wir uns auf eine glückliche und harmonische gemeinsame Zukunft einrichteten. Ich glaube nicht, daß ich sie so liebte, wie später Jessie, aber ich wollte ihr ein guter Ehemann und Familienvater sein und war es auch, soweit es in meiner Macht stand. Bis zu jenem Zeitpunkt, Mr. Holmes, war ich ein glücklicher Mann! Das Leben hatte es von Anfang an gut mit mir gemeint, und was ich auch anrührte, geriet mir zum besten. Als Student, als Soldat, als Arzt, als Freier – immer waren meine Mühen von Erfolg gekrönt. *
Er machte eine Pause, und es schien, als blicke er auf sein Leben zurück. Etwas wie ein Lächeln spielte auf den Überbleibseln seiner Züge und verschwand.
»Aber von einem Tag auf den anderen war alles vorbei. Das Unheil ereilte mich so plötzlich und willkürlich, als hätte ich den Vorrat an Glück, der mir zugeteilt war, aufgebraucht. Es geschah so: Zwei Jahre nach meiner Hochzeit erlitt meine Frau, von deren Herzschwäche ich immer gewußt hatte, einen Anfall, der sie zum lebenden Leichnam machte. Sie konnte weder sprechen noch hören, weder sehen noch sich bewegen. Ich hatte Männer sterben und ihre Glieder im Kampf verlieren sehen, aber nie zuvor waren ich oder die Meinen von einer solchen Katastrophe heimgesucht worden. Es blieb mir nichts anderes übrig, als sie in das dem Krankenhaus zugehörende Pflegeheim einzuliefern – sie, die noch am Tag zuvor meine beste, liebste Frau gewesen war.
Zuerst besuchte ich sie jeden Tag, aber da meine Visiten von ihr nicht wahrgenommen wurden und nur dazu dienten, mir selbst das Herz zu zerreißen, verminderte ich sie und stellte sie schließlich ganz ein. Ich begnügte mich mit wöchentlichen Erkundigungen nach ihrem Zustand, der immer gleich blieb und sich weder verschlimmerte noch verbesserte. Das Gesetz schloß jede Möglichkeit einer Scheidung aus. Aber ich hatte ohnehin keinen Wunsch, mich wieder zu verheiraten. Es war das geringste meiner Probleme, während ich meiner Arbeit im Krankenhauslabor nachging.
Für eine Weile nahm mein Leben eine neue Form an, und ich begann zu hoffen, daß das Schicksal mich von nun an verschonen werde. Aber das Unheil hatte gerade erst begonnen! Mein Vater schrieb und ließ mich wissen, daß er nicht wohl sei, aber ich verschob die Heimreise, weil ich meine Frau nicht zurücklassen wollte. Und so starb er, ohne mich wiedergesehen zu haben, und mein älterer Bruder übernahm das Erbe. Nach dem Ableben meines Vaters erhielt ich einen Brief von meiner Mutter, in dem sie mich anflehte, zu kommen, aber auch diesmal weigerte ich mich, weil ich Edith nicht verlassen wollte – und bald darauf starb meine Mutter. Ich glaube, daß der doppelte Kummer sie tötete – der Tod meines Vaters und meine Weigerung, heimzukehren.
Und dann, im vergangenen Jahr, als sei alles andere ein kindisches Vorspiel gewesen, ein leichtherziger Blick auf das, was bevorstand, kam die Pest aus China. Sie fegte durch Indien wie eine Geißel Gottes und vernichtete, was ihr in den Weg kam. Millionen von Menschen fielen ihr zum Opfer. Oh, ich weiß, Sie haben es in den Zeitungen gelesen, aber es mit eigenen Augen zu sehen war etwas ganz anderes, meine Herren, das kann ich Ihnen versichern! Der asiatische Subkontinent verwandelte sich in ein einziges, gewaltiges Totenhaus mit nicht mehr als einer Handvoll Menschen, die in der Lage waren, sich mit dem Problem auseinanderzusetzen und es zu bekämpfen. In all den Jahren als Arzt hatte ich niemals etwas Ähnliches erlebt. Die Krankheit nahm zwei Formen an: die bubonische Pest, die von Ratten übertragen wurde, und die pneumonische, die die Lunge infiziert und deren Träger Menschen sind. Aufgrund meiner vorhergehenden Arbeit auf dem Gebiet infektiöser Krankheiten war ich einer der ersten fünf Ärzte, die in die von der Regierung geformte
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