Sherlock Holmes und Old Shatterhand (German Edition)
diente offenbar als Bücherschrank und als Ablage für Bücherstapel und Papiere aller Art. »Meine Lebensumstände ermöglichen mir derzeit keine Unterkunft, die meinem Stand und meinem geistigen Rang würdig wäre. Nehmen Sie bitte schön Platz und bedienen Sie sich. Wenn Sie mich noch einen Moment entschuldigen würden. Ich stehe Ihnen sofort zur Verfügung.«
Karpathy verließ sehr hastig den Raum. »Bitte sehr!«
Ich sah Holmes an, und der blickte angewidert zurück. Was maßte sich dieser eingebildete Mensch an? Als müsste es eine Ehre für jedermann sein, Zoltan Karpathy kennenzulernen! Und als würden seine geistigen Fähigkeiten denen meines Freundes auch nur annähernd gleichkommen! Wir nickten einander zu zum Zeichen, dass wir einer Meinung waren und nahmen Platz.
Irgendwo in der Wohnung gingen Türen und man hörte Stimmen. Es war eine männliche Stimme, wahrscheinlich die Karpathys, und die einer Frau, die antwortete. Einzelne Worte waren nicht zu unterscheiden. Nach einer Weile kam Karpathy unter vielen Verbeugungen wieder ins Esszimmer zurück.
»Ich bin untröstlich, meine Herren, aber ein Gelehrter wie ich ist nie ganz Herr seiner Zeit. Schüler aus ganz London und Umgebung nehmen meine Dienste in Anspruch, um ihre englische Aussprache zu verbessern. Ich verstehe es auch nicht, dass die Engländer, verzeihen Sie, meine Herren, dass die Engländer ihren Kindern nicht beibringen können, wie man spricht. Dass da erst ein bescheidener Ungar kommen muss. Äh ... wie auch immer. Zudem weilt zurzeit meine, äh, Cousine Erzsébet bei mir. Sie will sich hier in London einer ärztlichen Behandlung unterziehen. Aber das nur am Rande! Was führt Sie zu mir?«
Holmes brachte unser Anliegen vor. Wir seien auf der Suche nach Miss Doolittle.
»Miss Doolittle? Eine reizende Person! Eine Ungarin, wie ich seinerzeit auf Anhieb feststellen konnte, obwohl ich nicht verstehe, warum sie sich Doolittle nennt. Ich habe sie auf dem Diplomatenball kennengelernt und mit ihr getanzt. Vladko von Transsilvanien, in dessen fürstlichen Diensten ich zu stehen die Ehre habe, hatte mich gebeten, herauszufinden, welcher Art und Fahrt sie ist, wenn ich so sagen darf. Es war ganz eindeutig, dass sie keine Engländerin war. Ihr Englisch war fehlerlos, ohne jede falsche Artikulation. Ich darf das so sagen, denn ich war Meisterschüler von Professor Higgins, dem berühmten Londoner Phonetiker. Sie haben sicher von ihm gehört. Ich war sein bester, sein begabtester Schüler, wie ich ohne falsche Bescheidenheit erklären darf. Oh, ich kann einen Engländer auf sechs Kilometer genau seinem Heimatort zuordnen, vorausgesetzt, er ist nicht stumm. Ich habe Diplomata der Universitäten von Pest, Wien und Greifswald, wie ich nicht ohne Stolz bekennen muss. Ich ...«
»Verzeihen Sie, wenn ich Sie unterbreche, Mr. Karpathy. Es liegt mir fern, Ihre sprachlichen Verdienste in Zweifel zu ziehen, aber mich würde interessieren, ob Sie Miss Doolittle nach dem Ball noch einmal wiedergesehen haben.«
Karpathy antwortete schnell. Fast zu schnell, für meinen Geschmack. »Nein, Mr. Holmes. Wie käme ich dazu? Ein Mann wie ich hat keine Zeit für solche Dinge. Ich habe meine Schüler, ich habe meine Lehrverpflichtungen, und Fürst Vladko ... Nun, ich darf sagen, dass er ein sehr anspruchsvoller Herr ist. Er schickt beinahe täglich nach mir, wenn er in London weilt, und nimmt mich immer mit auf seine Reisen. Ich erwähnte, glaube ich, schon, dass ich siebenundzwanzig europäische Sprachen und Dialekte beherrsche.«
»Beachtlich, Mr. Karpathy. Sehr beachtlich. Ich ...«
Holmes wurde durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen. Ein Hausmädchen erschien und knickste. »Mr. Karpathy, Ihr Fräulein Cousine möchte jetzt gehen.«
»Entschuldigen Sie, meine Herren! Danke, Maggy! Sagen Sie ihr, sie möchte hereinkommen.« Ein Zug öligen Wohlgefallens legte sich auf Karpathys Gesicht. »Meine Cousine Erzsébet muss uns leider gleich verlassen. Der erwähnte Arztbesuch. Aber vorher möchte sie Sie unbedingt kennenlernen. Sie spricht jedoch kaum Englisch. Fast scheint sie mir ein wenig aus der Art geschlagen. Erzsébet!«
In der Tür erschien eine zum Ausgehen bereite junge Lady. Sie trug einen dunkelbraunen Mantel, ebensolche Handschuhe und einen Hut mit riesiger Krempe in passender Farbe. Wagenrad , pflegte meine verstorbene Mary dazu zu sagen. Dunkelbraun waren auch die Haare, die unter der Krempe hervor in die Stirn fielen. Die Frau, die eine kleine
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