Sherlock Holmes und Old Shatterhand (German Edition)
erste Mal umdrehte, hatte der Nebel schon die vertrauten Umrisse von Mrs. Hudsons Haus verwischt. Nur noch die diffusen Konturen des Lichtes in unserem Wohnzimmer waren zu erkennen. Als ich mich ein paar Schritte weiter nochmals umsah, hatte der Nebel seinen milchigen Schleier davor gezogen. Ich ging durch die Straßen, scheinbar der Welt entrückt. Niemand schien noch rasch letzte Weihnachtseinkäufe tätigen zu wollen, verschwunden schienen die Gartenzäune, versunken die Bäume, in der grauen Gicht ertrunken die Häuser. Kein Windhauch regte sich. Eine modrige, kalte Feuchtigkeit legte sich auf die Kleider. Lange ging ich in Richtung Themse.
Die Menschen waren in den Gottesdiensten oder zu Hause, die noblen Juweliere in der Bond Street und die teuren Schneider in der Savile Row hatten längst geschlossen und das Gas, mit dem sie ihre Auslagen beleuchteten, ausgedreht. Nur einmal sah ich einen schweigenden Father Christmas mit einem schweren Sack auf der Schulter langsam durch den Nebel stapfen. Erstaunt über diese seltsame Erscheinung, nickte ich ihm zu. Auf einmal waren Kindheitserinnerungen an die einsamen Weihnachtsfeiern im Internat wieder da. Ich sah mich als kleinen Jungen vor einem riesigen Father Christmas stehen und ein Gedicht aufsagen oder Flöte spielen. Der riesige Father Christmas war niemand anderes als unser Pedell, das wusste jeder, doch niemand wagte, ihn unter dem weißen Bart und der Mütze zu erkennen, wenn er drohend die Rute hob, die er niemals einsetzte. Father Christmas nickte freundlich zurück, sagte aber nichts.
Ich ging langsamer und zündete eine kleine Pfeife an, die nicht recht brennen wollte und darum nicht schmeckte. Selbst der Sprachen lernende Sherlock Holmes war besser als diese trübe Suppe, die sich Londoner Nebel nannte. Daher kehrte ich, schon reichlich durchgefroren, in die Baker Street zurück. Als ich die ausgetretenen, knarrenden Treppenstufen zu unserer Behausung erklomm, dachte ich bei mir, was sie wohl erzählen würden, wenn sie reden könnten. Wie viele illustre Klienten auf ihnen hinauf und hinunter gekommen waren, Klienten, deren Probleme manchmal faszinierender, manchmal aber auch höchst trivialer Natur waren, Klienten, von denen viele verzweifelt und mit ihrem Latein am Ende waren. Und mein Freund hatte den meisten dieser Menschen helfen können.
Von meinen Erinnerungen nachdenklich gestimmt, beschloss ich ein Karamellbonbon zu essen, eine Spezialität, die von Maître Carême erfunden worden war, der die Küche im Royal Pavillon in Brighton leitete. Aber das nur als patriotisches Aperçu am Rande. Zu meinem Ärger musste ich feststellen, dass mein Freund mein Bonbonglas mit dem Sand gefüllt hatte, der für den Boden des Goldfischglases bereitstand. Ich hatte keine Lust, meine Bonbons aus dem Sand herauszuwühlen und machte eine ärgerliche Bemerkung.
»Sie brauchen nicht zu wühlen, mein Freund«, meinte Holmes, dessen Freund ich im Moment überhaupt nicht sein wollte. »Sie müssen lediglich einige Grundgegebenheiten der Physik zur Anwendung bringen.«
»Also wirklich, Holmes, was soll dieser Bubenstreich?«
Holmes nahm lächelnd mein Bonbonglas und schüttelte es kräftig. Im Nu lagen alle Karamellbonbons oben auf dem Sand. Er reichte mir das Glas. »Ganz einfach, Watson, nicht wahr? Die Sandkörner rutschen unter die größeren Bonbons, und schon liegen diese obenauf.«
»Dieser Aspekt der Physik war mir theoretisch geläufig«, gab ich etwas verschnupft zurück. »Darf ich Ihnen zum Dank für die Belehrung ein Bonbon anbieten? Es ist auch nur wenig Sand am Papier.« Ich hielt ihm das nun geöffnete Glas hin und er bediente sich großzügig.
»Was ich zeigen wollte«, sagte er kauend, »ist, dass es oft ganz einfach ist, etwas zu verbergen und wieder zu beschaffen. Man muss lediglich Grundgegebenheiten ...«
»... der Physik zur Anwendung bringen, ich weiß. Hören Sie übrigens die Wirkung einer weiteren Grundgegebenheit der Physik, Holmes? Bewegungsenergie wird in Lärm umgewandelt. Es klingelt. Vielleicht ein Klient?«
Tatsächlich führte Mrs. Hudson unseren Freund Lestrade herein und einen Herrn in vornehmer Kleidung, der einen Spazierstock mit silberner Krücke bei sich trug. Er war klein, gepflegt und offenkundig reich. Am Revers seines Rocks blitzte ein diamantenbesetzter Davidsstern. Unser Besucher hatte einen gepflegten weißen Bart, eine Glatze, eine große Nase und gütige kluge Augen. An seinen Schläfen ringelten sich die
Weitere Kostenlose Bücher