Shevchenko, A.K.
eines
Überlebenden, der sich nur auf seinen Verstand, seine Hände, seine Intuition
verlassen kann. »Wie ich schon sagte, sind wir, um nach Argentinien zu
gelangen, zuerst durch Frankreich gereist. Das Dokument wurde meinem Vater von
einer französischen Familie übergeben; diese Familie hat es mehr als einhundertfünfzig
Jahre lang aufbewahrt. Ich habe Ihnen eine Abschrift mitgebracht. Das Original
befindet sich zu Hause in Apostoles. Ich wollte es nicht quer durch den
Kontinent mit mir herumschleppen, bevor der Zeitpunkt der Präsentation gekommen
ist. Wie Sie sehen, parte Botschafter,
ermöglichen es die Bedingungen des Testaments, zum ersten Mal seit zweihundert
Jahren das Geld einzufordern.«
»Aber warum tust du es dann
nicht? Warum holst du's dir nicht, ohne es mit jemandem zu teilen, du Esel?«,
hätte der Botschafter am liebsten ausgerufen, aber nachdem er tief Luft geholt
hat, stellt er nur leise den ersten Teil der Frage.
Der Ladenbesitzer und Bauer schüttelt den Kopf, reibt den
Hals am Kragen: »Ich kann das Geld nicht selbst einfordern. Gemäß der zweiten
Bedingung muss der Nachfahr in der Ukraine leben. Ich kann nicht mehr zurück -
mein Leben spielt sich jetzt in Argentinien ab. Doch auch wenn der Nachfahr
außerhalb der Ukraine lebt, hat er, gemäß dem Testament, Anspruch auf das Geld,
sofern er 95 Prozent der Summe der ukrainischen Regierung überlässt - für den
Aufbau des neuen Staats - und nur 5 Prozent für sich selbst behält. Ich wollte
eigentlich nach Kiew reisen, um mit der Regierung über dieses Dokument zu
sprechen, doch meine Freunde in Buenos Aires haben mich gewarnt, dass es in
Kiew sehr gefährlich geworden sei. Die Stadt war in den letzten vier Jahren
offenbar zwölfmal in anderen Händen, zahlreiche Splittergruppen haben um sie
gekämpft, und deshalb hielt ich es für das Sicherste, hierher zu reisen und
Sie in Österreich zu treffen. Ich möchte nur besagte 5 Prozent. Es gibt so
viel zu tun in Apostoles. Ich will eine Reparaturwerkstatt für Traktoren
eröffnen und noch einen Laden, und ...«
Der Botschafter hört gar nicht mehr zu. Er hält hier einen
Schlüssel zur Macht in der Hand, nicht bloß ein Stück Papier mit unbeholfenem
Gekritzel. Mit diesem Geld könnte der Staat jede Menge Häuserblocks erbauen, im
Stil des Roten Wien. Und er, der Botschafter, würde diese Entwicklung
vorantreiben und ein Nationalheld werden. Die Massen würden ihm huldigen, und
dann könnten ihn diese roten Banditen nicht mehr aufhalten. Er wendet sich dem
Bauern zu. »Wir wären Ihnen ewig dankbar, Towarischtsch Polubotok. Ich muss meine Regierung schriftlich davon in Kenntnis
setzen. Wie lange gedenken Sie sich in Europa aufzuhalten?«
»Ich muss noch diese Woche zurück.« Sorge verdüstert das
sonnengebräunte Gesicht. »Die Regenfälle werden immer stärker, sie könnten die
Ernte wegschwemmen.«
Er denkt an den Regen, obwohl er mit seinen 5 Prozent bald
einer der reichsten Großgrundbesitzer Argentiniens sein könnte!, denkt der
Botschafter. Laut sagt er: »Wo kann ich Sie finden? Wir werden uns binnen eines
Monats an Sie wenden.«
Es verblüfft den Sekretär, dass dieser argentinische
Ladenbesitzer so viel Zeit beim Botschafter verbracht hat. Diesmal wurde er weder
hereingerufen, um ein Protokoll zu verfassen, noch hat er durch die wuchtige
Bürotür hindurch etwas mitbekommen. Noch mehr verwirrt ihn, dass der
Botschafter nach dem Ende der Besprechung nicht direkt nach Hause geht, wie er
es eigentlich beabsichtigt hat. Vielmehr verbringt er zwei Stunden damit,
einen dringenden, vertraulichen Bericht an das Ministerium zu schreiben. Dann
tropft er heißes, klebriges Siegelwachs auf die Rückseite des Kuverts und
bittet den Sekretär, es per Kurier so rasch wie möglich an den Narkomat für
Auswärtige Angelegenheiten zu schicken.
Der Sekretär muss also seine Phantasie bemühen. In dem
Bericht an seinen Vorgesetzten in der Auslandsabteilung des NKWD schildert er,
dass »zwischen dem Botschafter und dem Leiter der argentinischen Gesandtschaft
ukrainischer Immigranten ein geheimes Treffen« stattgefunden habe - was
vielleicht eine kleine Übertreibung ist, aber doch ein paar wahre Elemente
enthält. Der Sekretär deutet an, dass der Botschafter womöglich ein doppeltes
Spiel treibt, ein Verdacht, der vor allem angesichts seiner bourgeoisen
Vergangenheit nicht von der Hand zu weisen sei. Er spricht die Empfehlung aus,
den Brief des Botschafters zu überprüfen, bevor er den
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