Shevchenko, A.K.
mag ein Testament verfassen, wofern
er ein fremdländischer Freund ist, nicht aber ein fremdländischer Feind. Er
genießt die nämlichen militärischen Privilegien hinsichtlich Form und Inhalt
des Testaments. In Sonderheit: Obgleich kein anderer Sterblicher mit zwei
Testamenten von hinnen scheiden darf - einem Soldaten ist's gestattet; und
beide Testamente werden als gültig anerkannt.
Es kann also zwei
Testamente geben. Angenommen, eins liegt bei der Bank of England und ein
anderes in Argentinien - wenn beides Originale sind, wenn sie sich entsprechen
und der argentinische Nachfahr seine Abstammung beweisen kann, dann ... Sie versucht,
ihre Aufregung zu unterdrücken. Tja, vielleicht ist das doch ein richtiger
Fall.
Am nächsten Morgen ruft Kate die Bank of England an. Sie hängt
fünf Minuten in der Leitung und lauscht Vivaldis »Vier Jahreszeiten«, bevor
sie schließlich mit der Archivabteilung verbunden wird. Eine müde, urlaubsreife
Frauenstimme erklärt ihr, sie könne gern vorbeikommen und die Bankdokumente
einsehen. Das Archiv sei von zehn Uhr morgens bis halb fünf Uhr nachmittags
geöffnet, aber nur nach Terminvereinbarung. Die meisten Unterlagen, die über
dreißig Jahre alt sind, seien der Öffentlichkeit zugänglich. Um welchen
Zeitabschnitt es gehe, auf welchen Aspekt sich ihre Suche beziehe?
»Die Kontokorrentbücher des 18. Jahrhunderts«, sagt Kate
auf gut Glück.
»Wir besitzen eine reichhaltige Sammlung von
Kontokorrentbüchern - über achttausend Bände«, fährt die urlaubsreife Frauenstimme
fort. Aus Platzgründen seien die Kontokorrentbücher dieser Zeit jedoch in ein
anderes Gebäude gebracht worden, Kate müsse also erst ein extra Bestellformular
ausfüllen und dann fünf Tage warten, bis das Kontokorrentbuch verfügbar sei.
Und auch dann könne sie es nur im Rechercheraum des Archivs einsehen. Keine
Fotokopien, keine Kameras. Nur Bleistifte. Der Klang dieser Stimme erinnert
Kate an das knisternde Geräusch von Autoreifen auf nassem Asphalt nach einem
Sommerregen. »Sie ist keine urlaubsreife Frau, sondern eine Urlaubsreifenfrau.«
Kate wundert sich über ihre eigene Gehässigkeit. Die Melancholie von Vivaldis
Violinen war ihr lieber, doch das Kontokorrentbuch winkt. »Könnte ich bitte so
bald wie möglich einen Termin bekommen?«, fragt sie.
Die Stimme der Urlaubsreifenfrau klingt plötzlich warm und
gefühlvoll. Jetzt kommt ihr täglicher großer Moment, und schon sagt sie
triumphierend: »Im Archiv ist zurzeit sehr viel los! Die Rechercheure buchen
schon Monate im Voraus! Wann möchten Sie denn kommen?«
Kate ist klar, dass das Wort »morgen« hier völlig fehl am
Platz wäre, aber sie versucht es trotzdem. Und zu ihrer Überraschung erklärt
die Urlaubsreifenfrau, dass jemand seinen morgigen Termin um 9.15 Uhr abgesagt
hat. Tatsächlich: »Bittet, so wird euch gegeben.«
Nach der morgendlichen Hektik genießt Kate die
gravitätische Ruhe der Eingangshalle - schwarze Marmorsäulen, Mosaikböden - und
findet die Uniformjacken der Wärter ganz entzückend: blass-rosa, fast sexy.
»Houblon«-Rosa nennt man das, nicht wahr? Nach dem Direktor der Bank of England,
der es eingeführt hat. Kate weiß zwar nichts über Mr Houblons Geschäftssinn als
Banker, aber als Textildesigner hätte er bestimmt Erfolg gehabt. Ihre
Modebetrachtungen werden durch einen hochgewachsenen, schüchternen Mann
unterbrochen, in dessen jungem Gesicht ein erstaunlich buschiger Seemannsbart
prangt. Er stellt sich vor als Roger, Archivassistent. Er freue sich, Kate
kennenzulernen. Aber vielleicht freut er sich über jeden Menschen, der bereit
ist, die große, geräumige Halle und den luftigen Innenhof mit dem fensterlosen
Raum einer Archivabteilung zu vertauschen. Wie sich zeigt, ist Jolly Roger
sogar noch beschlagener als der beige Bibliothekar. Er spult seinen Text ab wie
auswendig gelernt und so monoton, als nähme Kate an einer geführten Tour teil.
»Während des Zeitraums, für den Sie sich interessieren, befand sich die Bank of
England noch in den gemieteten Räumen in Grocer's Hall. Glücklicherweise
besitzen wir ein paar interessante Dokumente - Personalakten, Tagebücher,
Unterlagen. Es war damals ein Riesenskandal, als einer der Bankdirektoren,
Humphry Morice, fingierte Rechnungen über fast 30000 Pfund abrechnete, damals
eine horrende Summe. Wir könnten Ihnen sowohl seine privaten Geschäftsberichte
und seine Korrespondenz zeigen als auch ...«
Dieses Mal ist Kate gut vorbereitet und
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