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Shevchenko, A.K.

Shevchenko, A.K.

Titel: Shevchenko, A.K. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ein fatales Erbe
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Plastikordner.
Offenbar ist die Theke der Espressobar mit aromatisiertem Desinfektionsmittel
gereinigt worden, denn der Ordner duftet nach Mandarinen. Er ist zu groß für
ihre Tasche und ragt zur Hälfte heraus. Wahrscheinlich genau die Hälfte, die
sie noch nicht gelesen hat. Na ja, da das Meeting mit Carol offenbar nicht
stattfindet, kann sie das eigentlich jetzt nachholen. Sie setzt sich an den
Schreibtisch und zieht ein liniertes Blatt mit Andrijs Übersetzung des ersten
Dokuments heraus:
     
    13. Februar 1922 Wien
    Dringend. Streng geheim
     
    An den Volkskommissar für Auslandsangelegenheiten vom
Botschafter der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik in Österreich. Genosse
Sweschnikow!
    Die außergewöhnlichen Umstände machen es erforderlich,
dass ich Sie umgehend über mein heutiges Treffen in Kenntnis setze. Ich habe
allen Grund, anzunehmen, dass dieses Treffen von allergrößter Wichtigkeit für
die Zukunft unseres unabhängigen sozialistischen Staates ist...
     
    9
     
    Wien, Februar 1922
    Beim Nachdenken über seine glorreiche Vergangenheit und
seine gegenwärtige Lage muss ihm jedes Zeitgefühl abhandengekommen sein. Aber
das Glockenspiel klingt jetzt ungeduldiger, das endlose Gebimmel erinnert ihn
daran, dass es sechs Uhr ist. Zeit, sich anzuziehen.
    In Wien ist der Februar nasskalt, man hat grauen
Schneematsch unter den Füßen, und der Wind fährt einem in die Knochen. Der
Botschafter hat dieses Wetter gerade drei Stunden lang genossen, bei der
Einweihung eines Mehrfamilienhauses Ecke Johannesgasse: Arbeiterwohnungen mit
Waschküche, in der sogar eine Waschmaschine steht, gemeinschaftliche Badewannen
und Duschen, ein Kindergarten und ein großer gemeinschaftlicher Innenhof.
Diese Sozialdemokraten sind offenbar an möglichst wenig Privatsphäre
interessiert!
    Mit großem Interesse lauschten sie auch seinen
sozialistischen Ideen. Schließlich repräsentiert er einen neuen unabhängigen sozialistischen
Staat im Herzen Europas. Einen Staat, der wachsen und gedeihen wird, genährt
von sozialistischen Ideen, während ganz Europa sich mühsam aus der
Wirtschaftskrise herauswindet. Nachdem er zwei Stunden lang frierend gewartet
hat, wurde der Botschafter aufgefordert, eine Rede zu halten. Er hat darüber gesprochen,
wie wichtig es ist, den Menschen ein Zuhause zu geben, nicht nur ein Haus; wie
wichtig es ist, sich an der Arbeiterkultur zu
beteiligen, am Netzwerk der sportlichen Wettkämpfe und Musikvereine ...
     
      Der Botschafter hat verschwiegen, dass es im Sozialismus nicht um Kinderspielplätze
und Planschbecken geht. Es war natürlich wichtig, die richtigen Symbole zu
schaffen, zum Beispiel diese Mehrfamilienhäuser, um die künftige Rolle des
Proletariats aufzuzeigen. Riesige Plakate mit kraftvollen, einprägsamen
Slogans zu entwerfen, um die Ikonen und Zarenporträts zu ersetzen. Aber auch
darum geht es im Sozialismus nicht. Es geht um Kontrolle. Wenn in einer
Gesellschaft alle gleich sind, ist diese Gesellschaft viel leichter zu
regieren. Nicht alle gleich glücklich, aber gleich, was den Glauben an eine
glückliche Zukunft betrifft. Er ordnete die Papiere auf seinem Tisch. Seine
Finger waren von der Kälte immer noch steif und gerötet, und er wäre liebend
gern früh zu Bett gegangen. Aber das würde man gewiss nicht zulassen. Sein
wieselgleicher Assistent huschte an die Tür - er streckte die Nase ins Zimmer,
schnüffelte, wie der Wind stand. »Jemand wartet draußen und möchte Sie
sprechen, Towarischtsch Posol.«
    Obwohl der Sekretär den Begriff »Genosse« auf ukrainische
Art, also weicher aussprach, klang er immer noch harsch, ungewohnt. Vor fünf
Jahren noch hat man ihn mit »Herr« angesprochen, nicht mit »Genosse
Botschafter«, und niemand hätte es gewagt, ihn während seiner Mittagsruhe im
Herrenhaus zu stören! Allerdings war er klug genug gewesen, auf das richtige
Pferd zu setzen: Nach der Revolution wurden Regierungen und Staaten ausgerufen
wie Rennergebnisse, die man mit Spannung erwartet. Sein Pferd hatte das Rennen
gewonnen, dieses von Blut und Zorn angepeitschte Rennen. Blut und Zorn, eine
Mischung, die sich für Aufstände eignete, aber nicht genügte, um ein Land zu
regieren. Riesen auf tönernen Füßen, dieses Regierungsgesindel, vergleichbar
mit den Porzellanfiguren, die zur Zeit in Wien so beliebt waren: Bizarr und nutzlos,
entbehrten sie der Schönheit echter Skulpturen ebenso wie der Funktionalität
modellierten Tons. Keine Fertigkeit, keine Handwerkskunst der

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