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Shevchenko, A.K.

Shevchenko, A.K.

Titel: Shevchenko, A.K. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ein fatales Erbe
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Außenminister erreicht.
Diesem Bericht fügt er den Brief des Botschafters bei und sendet das Päckchen
noch am selben Abend per Kurier ab. Nicht etwa an den Narkomat für
Auswärtige Angelegenheiten, sondern an seinen Chef beim NKWD. Auf dem Heimweg
gönnt er sich ein mächtiges Stück Sachertorte. Während er sich die
Schokoladensoße von den Lippen leckt und sich den üppigen, weichen Mandelteig
auf der Zunge zergehen lässt, feiert er den kleinen Sieg über seinen
Vorgesetzten, diesen blasierten, geschniegelten Mistkerl.
     
    10
     
    London, März 2001
    Die Stille wird langsam peinlich. Kate muss das Eis rasch
brechen, solange es sich noch um eine dünne Schicht ersten Bodenfrosts handelt.
Ihr ist klar, dass ein unvorsichtiges
Wort, ein falscher Zug alles verderben kann.
    »Ich hätte es eigentlich gleich sehen müssen«, wiederholt
sie, einfach nur um etwas zu sagen. Ihr Blick fixiert den Kaffeefleck auf dem
Tisch. »Ihrem ersten Dokument zufolge wurde das Testament bei der Bank of
England deponiert, das zweite Dokument deutet jedoch an, dass sich das
Testament in Argentinien befindet.« Andrij hüllt sich in Schweigen.
    »Das bedeutet ja nicht, dass beide Dokumente Fälschungen
sind, sondern nur, dass sie sich widersprechen. Es sollte nur ein Original des
Testaments geben.«
    »Wahrscheinlich ...«, sagt Andrij schließlich.
    »Wahrscheinlich was?« Kate findet einseitige Gespräche
äußerst stressig.
    »Soweit ich mich entsinne, steht im ersten Dokument: Vermutlich
bei der Bank of England deponiert.« Seine Stimme klingt gleichgültig.
»Wenn Sie mir nicht weiterhelfen können,
muss ich mir jemand anders suchen.« Seine Augen haben jetzt die Farbe des winterlichen
Meeres vor einem Sturm.
    Kate seufzt. »Na gut, lassen Sie mich das überprüfen. Ich
rufe Sie dann nächste Woche an.« Sie bereut ihre Worte sofort. Die Aussicht
auf finanzielle Belohnung ist sehr gering, der Einsatz zu hoch. Wann wird sie
endlich lernen, nein zu sagen? Wann hört sie endlich auf, sich mit den
Phantasien anderer Menschen zu befassen? Außerdem hat sie tausend Dinge zu
erledigen und ist wie immer einen Tag zu spät dran.
    Wut auf sich selbst führt allerdings nicht weiter; also
wendet sie sich wieder Andrij zu. Er ist viel zu direkt, beinahe grob. Aber
schließlich kommt er aus jener Welt, in der sich sogar Alltagsgespräche so
schroff wie sozialistische Parolen anhören. Er vibriert vor nervöser Energie,
dämpft dies aber durch sein offenes Lächeln. Sie findet ihn ebenso
widersprüchlich und faszinierend wie die Dokumente, die er ihr über die
Bartheke zugeschoben hat. Der Akte haftet immer noch der Mandarinenduft des
Putzmittels an. Es ist sonderbar, wie direkt die Verbindung zwischen Sinnen und
Gedächtnis manchmal funktioniert: Wenn Kate jetzt an Obstständen oder Saftbars
vorbeigeht oder im Fernsehen einen Chefkoch sieht, der farbiges
Orangenfruchtfleisch in Scheiben schneidet, um damit einen neu kreierten
Cocktail zu garnieren, dann denkt sie jedes Mal an Andrij. Leuchtend, frisch,
dünnhäutig. Bitteres Lächeln. Herber Humor. Süßsauer.
    Erst als Andrij geht, wird ihr klar, worauf sie sich
eingelassen hat. Babusya hat viele Male versucht, ihr das
Stricken beizubringen, ohne großen Erfolg - Kate brachte nie genug Geduld auf,
um in der verhedderten Wolle das Ende des Fadens zu finden. Den roten Faden in
Andrijs Sache bekommt man noch viel schwerer zu fassen. Die Testamente, mit
denen Kate sonst zu tun hat, basieren alle auf dem Erbrecht von 1858. Über das
Erbrecht vor dreihundert Jahren weiß sie jedoch nichts.
    Sie tröstet sich damit, dass sie zumindest etwas dabei
lernt, und schlüpft an Carol vorbei in die Bibliothek der Law Society. Zu dumm,
dass sie sich keinen Rat bei ihrer Chefin holen kann, nachdem sie Andrij
albernerweise wie eine kleine Pfadfinderin geschworen hat, sein Geheimnis für
sich zu behalten. Indem sie die dunkle, eichengetäfelte Halle in der Chancery
Lane betritt, begibt sie sich in ein anderes Jahrhundert. Das Einzige, was an
moderne Zeiten erinnert, ist ein junger Bibliothekar mit Igelfrisur, der ein
beigefarbenes T-Shirt trägt. Er starrt aus dem Fenster und zupft zerstreut am
Ring in seinem linken Ohr. Kates Frage - »Entschuldigen Sie bitte, wo finde ich
etwas über Testamente im frühen 18. Jahrhundert?« - klingt wie eine unbefugte
Störung. Der beige Bibliothekar kennt sich bestens aus. »Tja, die gute Nachricht
lautet, dass wir zu diesem Thema über sehr viele Informationen verfügen.

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