Shevchenko, A.K.
kommen wir wieder zurück?« Kate blickt verzagt auf den Zettel mit
der nutzlosen Adresse, den sie in der Hand hält - die Gassen tragen keine
Namen. Allerdings sind sie nicht verlassen. Auf den Fenstersimsen mancher
Häuser werden Getränke und Zigaretten feilgeboten. Von Zeit zu Zeit
vergewissern sich wachsame Hausbesitzer, ob alles noch da ist und wer
vorbeikommt: ein Käufer, der ein Schwätzchen halten möchte, oder jemand, der
etwas mitgehen lassen will, ohne zu bezahlen. Es ist eine sympathische Kombination
aus Straßenverkauf und Nachbarschaftswache. Kate fragt sich, ob dieses Modell
eventuell auch die Polizei in den Londoner Vororten interessieren könnte.
Der private Verkaufskiosk in der dritten Gasse wird von
einer großbusigen Matrone in einem ärmellosen schwarzen Kleid bewacht. Während
sie sich mit einer Zeitung Kühlung zufächelt, sieht man unter ihren Armen die
weißen Konturen der gestrigen Schwitzflecken und die frischen, dunklen Flecken
von heute. Andrij erbarmt sich ihres Elends und kauft ihr eine Schachtel
Zigaretten ab.
»Ich wusste gar nicht, dass Sie rauchen«, sagt Kate. »Tu
ich auch nicht«, erwidert Andrij. »Sie hat mir gesagt, dass wir hier rechts
abbiegen sollen. Das ist in der Nähe des Riachuelo, am Ufer, hinter dem Centro
Comunitario - dem Gemeindezentrum -, in der Nähe der verlassenen Militärfabrik.
Ein Haus mit einer >Plakattür<. Sie sagt, wir werden es dann schon
erkennen. Kommen Sie.« Er verschwindet in der Gasse, und Kate bleibt nichts
anderes übrig, als ihm zu folgen und, so gut es geht, den Pfützen auszuweichen,
die sich an den offenen Abzugsgräben bilden. Sie nähern sich eindeutig dem
Fluss - der Gestank wird stärker, die Unterkünfte kann man kaum noch als Häuser
bezeichnen: wacklige Gebilde aus Wellblech, zusammengehalten von
Sperrholzbrettern in allen Formen und Größen. Hier dominieren die Modefarben
des Winters: das Schlammbraun der Wände, das Kohlschwarz der erloschenen
Kocher, das Metallicgrau der Zinkwannen, die vor manchen Hütten stehen. Diese
Wannen sind hier die einzigen stabilen Luxusgegenstände.
»Achtung, da kommt ein Verkehrshindernis«, sagt Andrij
scherzhaft, aber Kate muss nicht lachen.
Drei kleine Mädchen beobachten sie von der anderen Seite
der Gasse: alle um die sieben, acht Jahre alt, alle mit schwarzen Zöpfen, die
ihnen wie Hängeohren vom Kopf herunterbaumeln. Eins der Mädchen hält ein
pausbäckiges Kleinkind fest an der Hand. Alle drei tragen dunkelblaue
Jerseytops und schwarze, an den Knien ausgebeulte Leggings. Ein Kind trägt über
den dunklen Sachen ein grellrosa Festgewand, ein der Armut trotzendes Spitzenkleidchen;
dazu rosa-weiße Barbie-Turnschuhe, passend zum festlichen Aschenputtelkleid.
Die flinken schwarzen Augen der Kinder betrachten Kate und Andrij mit der
argwöhnischen Neugier von Äffchen, die im Dschungel Fremde beäugen. Keins der
Kinder zupft sein Sweatshirt zurecht oder reibt sich die Nase. Reglos stehen
sie da, als posierten sie für einen Fotografen, für das Plakat einer
unbekannten Wohltätigkeitsorganisation, für einen Flyer, der ja doch nur im
nächsten Papierkorb landet und mit der restlichen Reklame entsorgt wird.
Kate wühlt in ihrer Tasche und gräbt aus: eine Packung Kaugummi,
einen dunkelblauen Hygienebeutel aus dem Flugzeug und vier in Plastikfolie
eingeschweißte Kekse. Es ist nicht viel, bloß ein kleines bisschen Frieden, ein
kleiner Bissen Hoffnung auf ein besseres Leben.
Der kleine Bub kommt auf Kate zugewackelt, magnetisch angezogen
von dem silbernen Kaugummipapier. Die rosa Prinzessin jedoch hält ihn mit
einer nicht sehr majestätischen Geste zurück, indem sie ihn einfach an seinem
struppigen schwarzen Schopf packt. Er zuckt zusammen, quäkt aber nicht los. Er
ist nicht der Erwählte, der Geschenke entgegennehmen darf.
Die Anführerin der Schar tritt vor, nimmt die Gaben an
sich und verzieht die Lippen - zu einem Lächeln, wie Kate meint. Eine Sekunde
später jedoch trifft Kate ein Speichelprojektil ins linke Auge. Und schon sind
die rosa Kriegerin und ihr Gefolge in einer der Gassen verschwunden, mit dem
Gefühl, das letzte Wort behalten zu haben, ihr Viertel verteidigt, ihre
Mission erfüllt zu haben.
Kate spürt, wie ihr der heiße Speichel die Wange hinabrinnt.
Sie ist so schockiert, dass sie nicht einmal nach einem Taschentuch sucht.
Andrij säubert ihr Gesicht mit dem Handrücken und wischt die Hand dann an
seiner Hose ab.
»Gehen wir«, sagt er nur. Und nachdem sie eine
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