Shevchenko, A.K.
offen mit ihm zu
reden versuchte, verschanzte er sich hinter einem chinesischen Sprichwort:
>Je mehr man weiß, desto weniger versteht man.< Ich bin einfach nicht zu
ihm durchgedrungen. Als habe er Angst gehabt, sein Wissen könnte mir schaden.
Und am Ende hat er mir seine Geheimnisse hinterlassen.« Pik-Ass. Schwarzer
Pfeil mitten durchs Herz. Die Scheidung von Kates Eltern. »Die waren zu
beschäftigt, um ihr Leben auf die Reihe zu kriegen, und haben erwartet, dass
ich >erwachsen< damit umgehe. Das Problem bestand darin, dass ich fast
erwachsen war. Ich brüllte sie an. Ich hab sie
beide gehasst, weil ich sie beide liebe. Die hielten das für einen
Teenageraufstand, aber in Wirklichkeit war es der blanke Horror: erwachsen zu
werden ohne ihren Beistand. Deshalb hab ich Antony zu sehr bemuttert. Meine
Mutter ist ständig auf Reisen und versucht die Welt zu retten - sie arbeitet
für einen internationalen Wohlfahrtsverband. Mein Vater hat wieder geheiratet,
deshalb fühle ich mich immer wie ein Gast, wenn ich ihn besuche. Herzlich
willkommen, aber doch wie ein Gast. Ich hatte großes Glück, dass die Mutter
meines Vaters in der Nähe meines Internats lebte - so konnte ich mich jedes
Wochenende zu ihr flüchten. Wir stehen uns sehr nahe: Sie gibt und gibt - großzügige,
bedingungslose Liebe. Sie spricht ukrainisch. Es würde Ihnen sicher Spaß
machen, sie kennenzulernen. Wie nennen Sie eigentlich Ihre Großmutter? Babusya? Ich meine
auch ...« Oft, nach einem langen Flug, auf dem man sich gemeinsam der
Selbsterforschung hingegeben hat, nicken sich die Vertrauten der Nacht am
nächsten Morgen nicht mal mehr zu und verbergen ihre Gesichter hinterm
Handgepäck. Wie oft erlebt man schon, dass aus Mitreisenden Freunde werden?
Oder wenigstens Brieffreunde? Man hat sich zu sehr preisgegeben, zu sehr
entblößt. Deshalb zahlt man lieber für eine psychologische Beratung - man kommt
herein, heult sich aus, lässt die Scherben auf dem Fußboden zurück. Kate jedoch
ist es nicht im mindesten peinlich, dass sie Andrij alles erzählt hat. Na ja,
fast alles. Aus irgendeinem Grund hat sie ihre Probleme mit Philip
verschwiegen. Ja, selbst Philip hat sie erstaunlicherweise mit keinem Wort
erwähnt. Sie denkt: Ich hab das Thema aber nicht bewusst vermieden. Es gab
einfach zu viele andere Gesprächsthemen.
Tatsächlich hat sie noch nicht mal über die Erklärung
nachgedacht, die sie Philip schuldet, wenn sie aus Argentinien zurückkommt.
Auch nicht über das hastige Ferngespräch vor dem Abflug: »Tut mir leid, Philip,
ich muss das Ticket umtauschen, weil ich nächstes Wochenende nicht kommen kann
... Klar will ich dich sehen, sei nicht albern, aber es hat sich etwas ergeben
... Ja, es ist so dringend und wichtig, dass ... Ich erklär's dir später.« Und
dann, kaum hörbar: »Ich liebe dich auch.«
Sie wendet sich Andrij zu. Er schläft seit zwei Stunden.
Die Sonne, die seine nach oben gedrehte Nasenspitze erreicht hat, schleicht
jetzt verstohlen zu seinen zitternden Lider hinauf und liebkost unterwegs jede
einzelne Sommersprosse. Kate wünscht sich, sie könnte dasselbe tun; ihn sanft
streicheln - von der Schläfe über den Wangenknochen hinab bis zum Mundwinkel,
mit dem Finger die Oberlippe entlang ... Andrij regt sich im Schlaf, und sie
blickt rasch weg, schlägt den Sprachführer auf, der geduldig auf ihrem Schoß
wartet. Wie gut die aufgeschlagene Seite passt:
El negocio Business
Tengo una cita con ... Ich habe
eine Verabredung mit ...
Aaui tiene mi tarjeta. Hier ist
meine Karte.
Encantado de conocerle. Freut
mich, Sie kennenzulernen.
Der einzige Grund für diese Reise ist ... wie war das
Wort? El negocio. Dass sie mit jemandem in Buenos
Aires landen wird, den sie nett findet (sie zwingt sich zu der Feststellung,
dass es keinesfalls mehr ist), scheint zweitrangig. Drittrangig. Unerheblich.
Jetzt der heftige Stoß beim Aufsetzen des Fahrwerks und im selben Moment
Andrijs »Guten Morgen, Kate!«. Willkommen in Lateinamerika. Willkommen in der
Wirklichkeit.
Nach dem Verlassen des Flugzeugs empfängt sie das reinste
Dampfbad, der schwüle argentinische Sommer. Die Feuchtigkeit strömt in den
klimatisierten Tunnel herein; sie hängt im Flughafen; sie sickert in das
schwarze Taxi mit dem gelben Dach; sie verschmilzt mit der Müdigkeit nach der
schlaflos durchflogenen Nacht, und Kate sehnt sich verzweifelt nach einem
einzigen kühleren Atemzug. Oder, noch besser, einer novemberlichen Windbö von
der Themse her.
Andrij
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